Bestandsaufnahme im Zweitligamittelfeld

Saisonvorbereitung mäßig, Saisonstart unterwältigend, Stimmung bescheiden. Hannover 96 spürt, freundlich gesagt, noch einige Wachstumsschmerzen in der ersten Phase des angekündigten Zwei-Jahres-Umbruchs. Zwei Fragen drängen sich auf: Wie gut ist 96? Und: Wird das noch was?

Die Ausgangslage

Argumentativ haben die 96-Verantwortlichen das Problem, „natürliche“ Aufstiegsansprüche, die sowohl von innen als auch von außen an den Verein herangetragen werden, mit der Selbstwahrnehmung als fragiles work in progress zu versöhnen. Ein ähnliches Muster kann man auf die Bewertung des Kaders übertragen: Einerseits wird als Teil der Vergangenheitsbewältigung und als Auftakt zum Neuanfang ein großer Umbruch in der Mannschaft beschwört, andererseits stehen doch erstaunlich viele bekannte Gesichter auf dem Platz (und daneben). In diesen Spannungsfeldern und mit angeblich/ offenbar klammer Kasse muss 96 eine Mannschaft aufbauen, die in dieser Saison so gut spielt, dass die Vision des sportlichen Erfolgs glaubwürdig genug erscheint, um den Kader im nächsten Jahr mit gezielten Ergänzungen zum klaren Aufstiegsfavoriten veredeln zu können.

Wie schwer sich die Verantwortlichen damit tun, zwischen erzwungener Vorsicht und notwendigem Risiko zu vermitteln, kann man wahrscheinlich an einigen Stellen in der Kaderstruktur und ihrem Zustandekommen ablesen: Man konnte Waldemar Anton nicht als Abgang einplanen, weil man dann schön bescheuert wäre, ist aber auch nicht in der Position, ein einigermaßen ordentliches Angebot abzulehnen – also kann man die Verpflichtung von Rechtsfuß Marcel Franke für die Innenverteidigung als Kompromiss sehen: Weil man eigentlich wie schon vor einem Jahr einen verlässlichen linken Partner für Anton hätte verpflichten müssen, aber wenn es dumm läuft nicht nur einen linken, sondern auch noch einen rechten Innenverteidiger brauchen könnte, entschied man sich (vielleicht) für Franke, der für Zweitligaverhältnisse solide bis gut ist, für mehr aber eben nicht mehr, während man für links nur halbe Lösungen hat (Anton, Felipe, Dreierkette mit einem Außenverteidiger, evtl. Horn). So kann man wieder nicht Anton seine Paraderollen (rechts innen in der Viererkette oder besser halbrechts in der Dreierkette) geben, sondern hat einerseits an seiner Stelle einen schwächeren und zumindest im Spielaufbau simpleren Spielertypen, verschenkt also Potenzial, und muss Anton selber in eine weniger optimale Rolle nach halblinks stellen und wirft dem verschenkten Potenzial gleich nochmal mehr hinterher.

Oder noch schlimmer: man zwingt sich selber zu der Rechnung, dass man Franke ja jetzt für rechts innen hat, also könnte man Anton ins Mittelfeld ziehen, wenn Felipe fit und in Form ist, und braucht deswegen auch nur halbe Lösungen für die Sechserposition, denn mehr kann man sich ohnehin nicht leisten (gute Sechser sind teuer bzw. nicht so leicht zu erkennen, was natürlich schwierig ist, wenn man gerade erst von einem auf drei Scouts aufgestockt hat). Wenn man Fossum, dem einen richtigen Sechser im Kader, keine Spielzeit zutraut (was eine etwas hasenfüßige, aber auch legitime Ansicht ist), muss man eben Bakalorz qua Berufung als natürlichem Hypersteuermann die tiefere Sechserrolle geben und mit den Konsequenzen leben. Man kann diese Muster weitersuchen und finden: für Maina ist der Abstieg eigentlich ein Segen (denn er war längst noch nicht so gut, wie er oft gesehen wurde), aber ob er auch viel Spielzeit auf einer gut abgesicherten Position (also nicht außen in der Fünferkette, siehe Elfmeter gegen Regensburg) kriegt, auf der er auch nicht die Hauptlast der Kreativleistung trägt, ist eher unsicher, sodass er auch nicht als feste Größe eingeplant werden sollte; Muslija wäre ein spannender Achter oder Zehner, muss aber als halber Außenspieler eingeplant werden, was gleichbedeutend sein kann mit einem halben Ausfall; mit Ducksch kam ein zweiter großer Stürmer wie Weydandt, der trotzdem keine richtigen Zielspielerqualitäten mitbringt; Ducksch ist aber ziemlich gut, spielt also wohl oft, aber wenn Weydandt in Form ist, ist kaum noch Platz für Teuchert, den man spätestens nächste Saison noch gut brauchen könnte (s.o.); wenn man das Problem durch zum Beispiel ein 5-2-3 lösen will, kann man nur einen Achter aufstellen, es bleiben im Kader aber dann noch ungefähr vier bis fünf andere Achter übrig… Und damit sind die taktischen Implikationen der schwierigen Kaderzusammenstellung nur ansatzweise gestreift. Die Botschaft ist also: Es ist schon alles nicht so einfach.

Wie gut ist 96?

Einerseits: Im ligaweiten Vergleich klingt Tabellenplatz 12 mit fünf Punkten aus fünf Spielen nicht so gut. Andererseits: wenn man sich anschaut, wie diese Bilanz zustandekam, sieht es nicht besser aus.

Wie oft 96 im Ligavergleich durchschnittlich pro Spiel zum Abschluss kommt und dem Gegner Schüsse gestattet:

Durchschnittlich viele Schüsse zugelassen und unterdurchschnittlich oft selber geschossen. Auf einem Niveau mit St. Pauli und Regensburg. Naja…

Bei den Schüssen, die aufs Tor kommen, ist es sogar noch ein bisschen düsterer: Beides unterdurchschnittlich. KSC und Heidenheim, auch nicht die erhoffte Gesellschaft.

Aber wenn man die Qualität der Torchancen (an Hand von expected Goals; xGA bedeutet expected goals allowed, also für den Gegner) berechnet: Licht am Horizont.

Also eher eine schwache Funzel. Aber immerhin: beides entspricht dem Ligamittelwert, über alle fünf Spiele hinweg gesehen. Gut, Bochum, Sandhausen, Fürth… naja. (Allerdings: 538.com legt nicht viel über die Methodik offen, deshalb sind vielleicht Elfmeter einberechnet, was manchen Wert verzerren dürfte.)

Auch, wenn man die Spiele einzeln untersucht, kommt heraus, dass die Leistungen nicht immer nahegelegt haben, dass 96 eher nach oben in der Tabelle als nach unten gehören würde. Dabei ist der Vergleich mit den Leistungen der Konkurrenz gegen die gleichen Gegner interessant, weil er für eine etwas bessere Einordnung sorgen kann (aber andererseits auch dem Faktor Tagesform oder Zufall oder natürlichen Schwankungen mehr Gewicht gibt, als sie haben sollten).

Gleich zu Beginn gegen die einerseits stärkste und andererseits krasseste Mannschaft spielen zu müssen, ist schon ärgerlich. Es lief dann auch dementsprechend, obwohl 96 sogar noch glimpflich davongekommen zu sein scheint:

(Ok, man liest das so: Oben steht der Gegner, alle darunter aufgeführten Statistiken (Schüsse, zugelassene Schüsse aufs Tor, etc.) sind aus der Sicht dieses oben genannten Teams formuliert. Die markierten Durchschnitts-, Minimal- und Maximalwerte beziehen sich auch auf die Leistung dieser Mannschaft in den bisherigen fünf Spieler dieser Saison. Die Farben rot und grün ober- und unterhalb des Durchschnitts sind wiederum aus Sicht von 96 gewählt. Heißt: Liegt 96 unter „VfB Stuttgart“ im grünen Bereich der Kategorie „Schüsse (pro Spiel)“, bedeutet das, dass dem VfB im Spiel gegen 96 weniger eigene Abschlüsse gelangen als im Schnitt ihrer ersten fünf Saisonspiele, 96 also etwas besser (=grün) war, als die anderen Mannschaften. Liegt 96 in Sachen „zugelassene Schüsse (pro Spiel)“ nicht nur im roten Bereich, sondern auch auf der Markierung für das Saison-Minimum, bedeutet das, dass Stuttgart im Spiel gegen 96 nicht nur deutlich weniger Schüsse zugelassen hat, als im Schnitt (96 hat also im Spiel gegen Stuttgart deutlich seltener geschossen, als es die Stuttgarter Gegner durchschnittlich taten, das ist schlecht von 96, also: rot), sondern auch noch keine andere Mannschaft, die bisher gegen den VfB gespielt hat, seltener zum Abschluss gekommen ist. Ist das intutitiv eingängig? Naja, geht so. Ginge das besser? Bestimmt. Egal, also insgesamt: wo 96 im roten Bereich liegt, war 96 im Spiel gegen die jeweilige Mannschaft nicht gut. Je öfter und je deutlicher 96 in der roten Zone liegt, desto schwächer scheint die Leistung gewesen zu sein.)

Danach kam allerdings die wohl beste Leistung der bisherigen Saison gegen Regensburg. Das Unentschieden war also zumindest nicht allzu glücklich:

 

Das Ergebnis gegen Wehen danach war besser, die Leistung nicht unbedingt:

Gegen Fürth war dann beides durchwachsen:

Gegen Hamburg wiederum scheint das Ergebnis schlechter als der Auftritt gewesen zu sein, auch wenn der nicht unbedingt gut ist:

Auch unabhängig der Tabelle also: Viel Durchschnitt, mal drüber, mal drunter, eher Ausreißer nach unten als nach oben. Sollte das so weitergehen, ist das primäre Kurzfristziel „Glaubwürdigkeit der sportlichen Vision festigen“ dann doch stark gefährdet. Also:

Wird das noch was?

Nachdem 96 zwischenzeitlich keinen Sechser (im engeren Sinn) im Kader hatte, ist durch die späte Verpflichtung von Dennis Aogo immerhin einer da. Damit ist zumindest die personelle Grundlage gelegt, um die Probleme im Spielaufbau zu entschärfen, die 96 in eigentlich allen Begegnungen mal mehr, mal weniger deutlich hatte. Während das Freispielen auch gegen einen hoch pressenden Gegner ganz ordentlich funktioniert (etwa mit zurückfallenden Außenverteidigern gegen Regensburg und Wehen, unter Einbezug von Zieler) und der Ball durch die Abwehr und auf die Flügel meistens ganz ordentlich läuft, ist der Übergang nach vorne bislang ein wesentliches Problem im Offensivspiel gewesen. Stattdessen gab es auch immer wieder Szenen, in denen 96 mit zu vielen Spielern im Umfeld der ersten Aufbaulinie sich selbst die Optionen nahm, wenn zum Beispiel beide Sechser (oder ein Achter) tief spielten und die Außenverteidiger nicht rechtzeitig aufrückten. Gegen Fürth etwa reichte die Manndeckung von Prib und Bakalorz durch die beiden Fürther Achter, das gute Versperren der Halbräume durch ihre Flügelstürmer und punktuelles Leiten durch Keita-Ruel auf den aufbauschwächeren Andribbel-Skeptiker Franke, um 96 vor große Probleme zu stellen. Eine Lösung zum Einbeziehen des Mittelfelds und zum Aufbrechen der gegnerischen Kompaktheit wie gegen Wehen, als Prib sich neben die Innenverteidiger fallen ließ und die beiden Außenverteidiger aufrücken konnten, wäre wegen der klaren Fürther Zuordnungen einen Versuch wert gewesen.

Gegen Wiesbaden hatte dieser kleine taktische Kniff zwar für Stabilität in der Ballzirkulation außerhalb der gegnerischen Formation gesorgt, aber auch wenig Penetration erlaubt. So blieben auch in diesen Spielen lange Bälle, Nachrücken auf die Abpraller und Druck in die Tiefe nur mäßig vielversprechende Angriffswege, die gegen Regensburg phasenweise noch durchaus effektiv gewesen waren. Die Flügelangriffe als zweites wesentliches Merkmal der 96-Offensive überzeugen weniger durch ihre Vorbereitung oder Ausführung (mit Ausnahme der Szenen gegen Regensburg, als Muslija halblinks hinter Maina driftete und lose Bälle aufsammeln oder Dribblings starten konnte; eine Synergie, auf die man irgendwie aufbauen sollte), sondern schon eher durch die Art ihrer Vollendung: wenige hohe Flanken und viele prinzipiell sehr gute flache Pässe in den Rückraum sind auch mittelfristig ein guter Anker für das Spiel im letzten Drittel. Diese beiden Grundzüge des Angriffsspiels (Vertikalität und Tempo, Flügelangriffe) mit den vielen Achtern im Kader übereinzubringen, wird aber noch eine Herausforderung – mit Haraguchi, Muslija und vor allem Stendera müsste man mitunter größere Abstriche beim bisher gesehenen, eher physischen Spiel machen, um sich eine bessere Ballzirkulation zu erkaufen. Wenn das aber austariert werden kann, sind die Aussichten besser und gehen über die bisherigen Andeutungen hinaus.

Im Spiel gegen den Ball lauern auch größere Fallstricke. Während das punktuell intensive und auch flexible Pressing gegen Stuttgart noch gute Phasen einleiten konnte, war vor allem gegen Fürth und Hamburg das Verhalten gegen den Ball problematisch. Gegen Fürth (und teilweise gegen Wehen) stand 96 im Mittelfeldzentrum in Unterzahl, ging aber bis zur Umstellung auf 4-2-3-1 vor der Pause und auf ein Fünferkettensystem nach der Halbzeit trotzdem relativ strikt in direkte Duelle über den ganzen Platz. Gegen Hamburg war die Unterzahl auf den Flügeln mit der Fünferkette zunehmend ausschlaggebend für die Unterlegenheit. In zweiten Halbzeiten fiel außerdem immer wieder eine größere Nachlässigkeit im Gegenpressing auf, weil die Balance im Mittelfeld mit der suboptimalen Besetzung vor der Abwehr ihre Spuren hinterließ, obwohl Prib bisher schon viel von seiner Balancefähigkeit zeigen konnte (er sollte aber nach zwei Kreuzbandrissen idealerweise auch noch nicht die große Rolle spielen müssen, die er bislang hatte, aber das ist eine Kader-Frage, siehe oben…). Szenen wie diese, die zum Fürther Ausgleichstor führten, dürfen sich jedenfalls nicht allzu häufig wiederholen, wenn 96 weiter nach oben will.

Die drei Fürther Stürmer binden die 96-Viererkette hinten und die Außenverteidiger außen, sodass Horn auf den Achter Itter, der hier nicht zum ersten Mal nach außen ausweicht, keinen Zugriff herstellen kann. Der hat Platz und kann fast bis zum 96-Strafraum dribbeln, was am Ende natürlich auch an Bakalorz‘ Zögerlichkeit liegt, aber den Ausgangspunkt eben in der unpassenden Pressingstruktur hatte.

Mit einem Kader, dem man die Qualität für Platz 3 bis 5 wünscht, der aber eher nach Platz 4 bis 8 riecht und bei entsprechender (Nicht-) Entwicklung mancher Spieler auch im Bereich von 6 bis 10 landen kann, ist schon eine relativ signifikante Steigerung zu erwarten.

1 Kommentar

  • […] anfangs schwer getan, aber immer wieder in einzelnen Aspekten überzeugende Fortschritte gezeigt: Der Spielaufbau ganz hinten wurde mit der Einbindung von Zieler teilweise ordentlich umgesetzt, der …. Aber auch in den ersten Saisonspielen genügten taktische Anpassungen der Gegner (z. B. die […]

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