Walace und Wahrnehmung

Ziemlich viel Geld überwies 96 vor der letzten Saison nach Hamburg, damit Walace fortan für Hannover spielen würde. Warum genau (er so teuer war), entzieht sich bis heute meinem Verständnis.

Gut

Walace ist ein Top-Athlet. Ziemlich groß, ziemlich durchtrainiert und trotzdem kein unbeweglicher Schwerlasttanker. Nachdem der damalige 96-Trainer Breitenreiter in der vorangegangenen Saison immer wieder mit der ansonsten uncoolen Entscheidung, Waldemar Anton auf die Sechs zu stellen, seinem Wunsch nach einem physisch stärkeren Akteur neben Pirmin Schwegler Ausdruck verliehen hatte, schien Walace insofern eine gute Wahl zu sein.

Mit 2,1 gewonnenen Kopfballduellen pro Spiel (laut whoscored.com) steht er als zweitbester Defensivspieler (nach Anton) in der Top-5 der Mannschaft und deutlich besser da als seine Sechser-Konkurrenten Schwegler, Bakalorz oder Fossum. Unter den Spielern mit mehr als 1000 Einsatzminuten hat er nach Julian Korb außerdem die meisten versuchten Tacklings vorzuweisen. Auch bei den tatsächlich erfolgreichen Balleroberungsversuchen liegt er mit durchschnittlich 2,3 pro 90 Minuten nur hinter Schwegler (dessen Aggressivität gegen den Ball immer etwas unterschätzt wird), Oliver Sorg und Miiko Albornoz. Wenn es um Wucht und Physis geht, hat er oberflächlich betrachtet also sein Soll erfüllt.

Außerdem kann man argumentieren, dass sich 96 mit seiner Verpflichtung gegenüber dem Vorjahr verbessert hat, indem Walace ein Upgrade zu Schweglers vorherigem Doppelsechs-Partner Bakalorz verkörpert (ich schrieb mal irgendwann von Walace als „Erstliga-Bakalorz“). Denn zu den physischen Vorzügen des Brasilianers kommt, dass er grundsätzlich ein ähnlicher Spielertyp ist: Beide zeichnen sich durch aggressives Spiel gegen den Ball aus, beide verteidigen gerne (und auch ganz gut) nach vorne und schalten direkt, vorzugsweise mit dem Ball am Fuß selber in die Offensive um.

Links: Walace verteidigt den langen Ball nach vorne, setzt sich im direkten Zweikampf durch und schaltet per Dribbling nach vorne um. Rechts: Erneut kurzer, knackiger Zweikampf, in dem Walace schon durch den Anlaufweg auf die Balleroberung und das folgende Umschaltdribbling aus ist, indem er den „offensiven“ Weg geht, anstatt zwischen Tor und Gegenspieler zu stören…

…, das geht aber natürlich auch mal schief und ist dann gar nicht mal so gut.

Das Profil des aggressiven Umschalt-Sechsers bzw. -Achters neben dem Ballverteiler und im Ballbesitz tiefer positionierten Strategen Schwegler beibehalten zu können, aber die (defensive) physische Komponente zu stärken, erschien vielleicht verlockend und mit der Verpflichtung von Walace gewährleistet.

Aber

… sollte das schon eine hohe Millionen-Ablöse rechtfertigen? Zumal, wenn man die aus Hamburg bekannten weil öffentlichkeitswirksam vorgeführten Kapriolen und die mehr als nur angedeuteten Mentalitätsdefizite berücksichtigt? Kann man wurscht finden (den kriegen wir schon hin) oder nicht.

Abseits dieser nicht-taktischen Erwägungen kommt vor allem aber so etwas wie ein strategisches Dilemma hinzu, das sich aus grundlegenden Widersprüchen in Walaces Spielerprofil ergibt. Eine recht große Rolle spielte dabei der Umstand, dass 96 – ob gewollt oder nicht – vor allem am Anfang der Hinrunde deutlich mehr Ballbesitz sammelte und proaktiver ausgerichtet war, als man es angesichts des Kaders erwarten konnte. Zu dieser Entwicklung passte Walace nicht allzu gut.

Einerseits spielte er nämlich eben nicht konsequent den funktionalen Achter, also irgendwo im Mittelfeld, während Schwegler abkippte oder tiefer vor der Abwehr den Ball verteilte. Immer wieder war stattdessen sogar Walace derjenige, der öfter in der ersten Aufbaulinie agierte und im Schnitt tiefer spielte. Was man positiv als „Flexibilität“ auslegen könnte (man muss diese Trainer-Floskeln aber immer auf den Gehalt hinterfragen: ist die jeweilige konkrete Art von Flexibilität überhaupt für den Gegner und sein Spiel von Bedeutung und somit für die eigene Mannschaft ein Vorteil?), kann man auch als unklare, inkonsequente Rollenverteilung deuten, die den Profilen der Spieler zum Teil widerspricht.

Und andererseits: das Passspiel und Walace passen nicht so gut zusammen. Auch das konnte man schon in Hamburg sehen, ohne sich zu bemühen. Als Christian Titz Trainer wurde und sich strategisch konsequent auf ein Ballbesitz- und Positionsspiel festlegte, war Walace raus. Das heißt: er war raus aus dem Mittelfeld. Stattdessen wollte Titz ihn als Innenverteidiger (auch in einer Dreierkette) aufbieten. Weil Walace das verweigerte, können wir nicht sagen, wie gut es funktioniert hätte. Aber auch bei 96 zeigte er dann, wie Titz zu seiner Einschätzung kam.

Nicht gut: Passspiel

Technisch zwar ganz gut, aber im mannschaftlichen Kontext nicht gerade hilfreich – so müsste man Walaces Passspiel isoliert betrachtet zusammenfassen. Er hat eine hohe Passquote (eine der besten bei 96), aber das kommt auch daher, dass er deutlich einfachere Pässe als seine Mitspieler spielt. Er setzt fast keine strategischen Impulse und bringt sogar manchmal seine Kollegen eher in Drucksituationen, als sie zu entlasten. Hinzu kommen richtig dicke Aussetzer im Passspiel, die nur schwer zu erklären sind.

Auch in der Phase der Saison, als man an Lobeshymnen auf Walace kaum vorbeikam, hatte er schon pro Spiel mindestens einen völlig hanebüchenen Pass – und das ist nicht so dahingesagt, sondern eine konkrete Beobachtung:

Hier waren es sogar zwei in einem Spiel.

Nicht gut: Positionsspiel

(Mag die Verwendung dieses Begriffs für individuelles Spielerverhalten im Raum bei eigenem Ballbesitz eigentlich nicht, aber muss jetzt mal kurz gehen.) Walace spielte in Titz‘ Ballbesitz-Planungen auch deshalb keine Rolle für das Mittelfeld, weil er sich im Raum nicht gut bewegt, um Passwege zu öffnen, Winkel zu verbessern oder die gegnerische Struktur zu stören. Wenn Walace bei 96 höher im Feld spielte, blieb er meistens so blass, dass sein konstantester positiver Beitrag zum Spiel im Blocken eines Gegenspielers bestand. Andribbelnden Mitspielern bietet er keine Entlastung oder Anspielstation, er bewegt sich wenn überhaupt nur sehr langsam aus dem Deckungsschatten seines Gegenspielers heraus und fordert Bälle entweder gar nicht oder wenn doch dann meistens in Situationen, in denen durch seine Bewegungen nichts gewonnen ist.

Schalke spielt mannorientiert, Walaces Herauskippen ist deshalb doppelt kontraproduktiv: Einerseits müsste Albornoz dann ja aufrücken und würde einfach in die Arme des Schalker Flügelverteidigers laufen, es wäre also nichts gewonnen. Andererseits zieht Walace so aber auch noch den Schalker Achter auf die Seite, auf der Albornoz bislang relativ viel Freiraum (rot) hatte und immerhin den Flügelverteidiger herausgelockt hätte, hinter dem dann (blau) ein interessanter Raum für die Stürmer aufgehen könnte. So löst sich Walaces Gegenspieler dann einfach von ihm und attackiert Albornoz.

Manchmal schadet es also sogar.

Schlecht: Vororientierung

Eine der wichtigsten und verglichen damit nur wenig diskutierte Kompetenz von Fußballspielern: Sich vor der möglicherweise oder mit Sicherheit folgenden eigenen Aktion zu orientieren und sich darauf einzustellen, was die Beobachtung für die Ausführung (zum Beispiel der Ballannahme, der Ablage, des Passes, etc.) bedeutet – die Vororientierung. In einer Mannschaft mit viel Ballbesitz und vielen Kurzpässen müssen insbesondere Sechser, die von allen Seiten attackiert werden, aber auch in alle Richtungen agieren können, ständig um sich schauen. Das gilt umso mehr, wenn sie im nächsten Moment angespielt werden.

Weil Walace in diesem Punkt alles andere als gut, man muss leider schon sagen: schlecht ist, konnte Christian Titz ihn auf keinen Fall als Sechser spielen lassen. Natürlich wollte 96 das damalige Hamburger Spiel nicht kopieren, und deshalb muss man andere Maßstäbe anlegen. Aber auch bei weniger Ballbesitz und einem weniger komplexen Positionsspiel brauchen Sechser ein gewisses Niveau in der Vororientierung: Die Vororientierung ist keine Spezial-, sondern eine Allgemeinkompetenz. Dass Walace bestenfalls simple, schlechtestenfalls schlechte Pässe spielt oder sich nicht gut in der gegnerischen Formation bewegt, liegt auch an seiner schlechten Vororientierung.

Guckt nicht, Kopf ist Richtung rechts unten (schwarze Balken) gerichtet, da sieht man dann nur den nächststehenden Mitspieler. Den soll man, wenn’s geht, in der Lehre des juego de posición gerade nicht anspielen.

Fußball ist (unter anderem) ein Wahrnehmungssport. Um das zu verdeutlichen und zu illustrieren, lohnt sich die Beschäftigung mit Walace, der ja eigentlich gar kein besonders aufregender Spielertyp ist („Erstliga-Bakalorz“). Wenn man die Frequenz der Schulterblicke im laufenden Spiel heranzieht (die wesentliche Voraussetzung für eine gute Vororientierung), ist zum Beispiel Julian Weigl ziemlich gut. Und Walace muss man verglichen mit Spielern auf einem ähnlichen Leistungsniveau am anderen Ende dieser Skala einordnen.

Er kriegt im Sechserraum keinen unmittelbaren Druck, die Gegenspieler sind relativ weit weg, er könnte sich sogar mit dem rechten Fuß in den immer noch sicheren Raum (rot) drehen. Aber…

Er guckt einfach nicht (sinnvoll). Weil er nicht guckt, kann er freie Räume nicht nutzen und hat fast gar keine andere Möglichkeit, als einfache Pässe zu spielen, die das Spiel seiner Mannschaft nicht voranbringen.

Ganz schöne Zusammenfassung:

Das Problem

Walace hat seine Stärken in der Bewegung nach vorne aus der Defensive heraus, weil in diesen Szenen seine Physis zur Geltung kommt und sein Umschalt-Drang genutzt werden kann. Walaces Schwächen sind so gelagert, dass er mit dem Ball entweder ganz hinten spielen muss, sodass er das Spiel immer vor sich hat, oder man eben Abstriche hinzunehmen hat, wenn er weiter vorne positioniert ist. Je näher er am gegnerischen Tor positioniert ist, desto stärker wirkt sich aber aus, dass er das Spiel prinzipiell langsam macht und sich im Ballbesitzspiel eher nach hinten als nach vorne orientiert – also genau andersherum, als es ihn aus der defensiven Haltung heraus stark macht. Diese beiden Pole in einer einigermaßen harmonischen Rolle im Mittelfeld zusammenzubringen, ist nicht so einfach und man kommt wohl nicht an der Feststellung vorbei, dass es auch bei 96 nicht funktioniert hat. Ein teures Experiment.

3 Kommentare

  • albernaz sagt:

    Kannst du mir erörtern wie die Beobachtungen „Umschalt-Drang“ (habe ich anders erlebt) und „macht das Spiel prinzipiell langsam“ (teile ich voll und ganz) zusammenpassen? Vielleicht habe ich da einfach ein anderes Verständnis der Begriffe die du verwendest, würde mich freuen!
    Ich habe Walace zu Beginn der Saison – beispielsweise beim Spiel gegen Leipzig – als unheimlich pressingresistenen Ballverteiler erlebt, der sich häufig mit kurzen Dribblings auch gegen zwei angreifende Gegner zur Wehr setzen kann, um dann… ja um dann den Ball quer zu spielen. Ab und zu kommt dabei eine gute Auflösung heraus, wenn der Gegner extrem verschiebt wie RB und der Nebenmann von Walace dann direkt auf die offene Seite weiterleiten kann, weil dieser das Gegenpressing ins Leere laufen lassen hat. In den meisten Fällen werden so aber Kontersituationen verschenkt und das Spiel verschleppt, wenn nicht sogar der Nebenmann in Bedrängnis gebracht.
    Sogesehen hat Walace in meinen Augen zum Breitenreiter-Fußball (wie auch immer der jetzt genau aussieht) ganz ok gepasst, bzw. dazu beigetragen, dass er in dieser Saison so undefinierbar aussah, zu Doll dann schon wesentlich weniger und zu Slomka eigentlich gar nicht mehr. Ich habe mir immer gedacht, er würde in dem was man klischeehaft unter einer „Italienischen Mannschaft“ versteht ganz gut aussehen.

    • Jaime sagt:

      Ja, ist in der Tat nicht ganz sauber formuliert. Der Umschalt-Drang bezieht sich (ausschließlich) auf Situationen, in denen er selber den Ball erobert und direkt im Anschluss umschalten kann – das sollen die dargestellten Umschaltdribblings zeigen und die eine Szene, in der er auf den Ballgewinn „von der falschen Seite“ aus ist, der es ihm erlauben würde, direkt offensiv zu werden. Wenn er selber nicht den Ball gewinnt, schaltet er sich allerdings wenig bis gar nicht schnell nach vorne ein, das stimmt, deshalb hätte ich da genauer sein müssen (das ist nämlich auch ein recht wichtiger Unterschied zu Bakalorz). Ich bin mir aber andererseits relativ unsicher, wie viel davon seine eigene Entscheidung ist, denn oft war es glaube ich auch eine taktische Anweisung, dass er der absichernde Sechser sein sollte.
      „Unheimlich pressingresistenter Ballverteiler“ ist mir deutlich zu hoch gegriffen, aber es stimmt schon, dass er technisch immer mal wieder gute Szenen hat und das auch unter Druck ordentlich lösen kann. Nur vermeidet er ansonsten eben von vorne herein erst Situationen, in denen er unter Druck kommen könnte.

  • […] spät, aber immerhin noch rechtzeitig ein Ballverteiler und Rhythmusgeber in den Kader gekommen, der ihm vorher ziemlich deutlich gefehlt hatte, während Stendera als relativ vielseitiger und technisch starker Achter das kreative Element zu […]

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