Tayfun Korkut: die Bilanz von Jahr 1

 

Mit dem 1.1.2014 ist Tayfun Korkut ein Jahr lang Cheftrainer von Hannover 96 und hat schon viel erlebt – vor allem aber hat er seitdem einiges bewegt. Der erste Artikel dieses kleinen Blogs befasste sich noch mit einer Zusammenfassung der ersten Maßnahmen, die der damals den meisten Beobachtern völlig unbekannte 39-Jährige in seinem ersten halben Jahr in der Bundesliga vorgenommen hatte, um Hannover 96 nach einer inkonstanten, negativ-turbulenten Hinrunde zu stabilisieren.

Tayfun Korkut war seit seinem Amtsantritt im Januar 2014 zunächst mit der Stabilisierung beschäftigt, stand aber gleichzeitig vor der großen Herausforderung seine bis dahin taktisch und vor allem strategisch relativ monothematisch orientierte Mannschaft schrittweise in Richtung seiner eigenen Ideen zu entwickeln. Auf dem Weg dahin sah er sich zahlreichen Verletzungsproblemen gegenüber, die ihn immer wieder zur Improvisation zwangen. Erst mit dem vorentscheidenden Heimspiel gegen den Hamburger SV konnte eine nachhaltige Trendwende eingeleitet werden und in den folgenden Spielen deutete sich bereits an, dass Korkut zur Weiterentwicklung einer Mannschaft absolut fähig ist. Das Beispiel des Hamburg-Spiels weist zudem bereits auf eine Eigenschaft des mittlerweile 40-jährigen Trainers hin, die sich auch in der abgelaufenen Hinrunde bestätigen lässt: Korkut hat es bisher geschafft, seine Mannschaft regelmäßig bis an ihre Grenze zu bringen – und in schwierigen Situationen auch darüber hinaus. Die am Ende mit 24 Punkten gut absolvierte Hinrunde war im Hinblick auf den Verlauf der Ergebnisse wohl weniger konstant und problemlos als erhofft. Doch auch nach längeren Phasen der Sieglosigkeit oder spielerischen Problemen gelang es dem Trainerteam und der Mannschaft immer wieder, den Trend rechtzeitig umzukehren. Meistens ging mit diesem kurzfristig erscheinenden Umschwung jedoch auch ein nachhaltiger Schritt in der taktischen und spielerischen Weiterentwicklung einher, sodass die Mannschaft und das Spiel von Hannover 96 im Dezember 2014 nur noch rudimentär mit ihrem früheren Gegenüber zu tun hat.

Wie bereits in den vergangenen Jahren verteidigt Hannover 96 auch unter Tayfun Korkut in den allermeisten Fällen in einer 4-4-2- oder 4-4-1-1-Formation (eine sehr schöne und effektive, aber in der Wirkung öffentlich missachtete Ausnahme bildete das 4-1-4-1 gegen Stuttgart mit pendelnden Achtern und einem zurückhaltenden Joselu im gegnerischen Sechserraum, eine andere war das 5-3-2 gegen Bayern München). Die konkrete Herangehensweise in den unterschiedlichen Phasen des gegnerischen Angriffs unterscheidet sich jedoch relativ stark von der Defensivstrategie der vergangenen Jahre. Im Verlauf der Saison wurde vor allem immer deutlicher, dass 96 nun aktiver den gegnerischen Spielaufbau zu stören versucht. Das durchgängige Pressing aus der besagten Formation heraus ist mittlerweile vermutlich so hoch und aggressiv wie noch nie (vielleicht war das in der Rangnick-Zeit so ähnlich, da fehlen mir aber präzise Erinnerungen). Folgerichtig schiebt auch die Viererkette wenn möglich weit auf und verteidigt signifikant höher als noch zuletzt. Zu Beginn der Saison sah man vor allem, dass 96 in der Anfangsphase einer Partie hoch presste, sich im Laufe der ersten Halbzeit aber schrittweise zurücknahm und die Pressingspitzen einen etwas tieferen und stärker ausgeprägten Raumfokus aufnahmen. Gegen Ende der Hinrunde hingegen war die Mannschaft darum bemüht konstant früh zu stören, die ballführenden Innenverteidiger immer wieder intensiv anzulaufen und das Spiel möglichst rasch auf den Flügel zu lenken. Ergänzt wurde diese Ausrichtung durch ein paar situative Mannorientierungen eines Sechsers, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Manuel Schmiedebach, der beim Versuch des Gegners den Sechserraum im Aufbau zu bespielen schnell seine Position verließ und den direkten Zugriff suchte. In der Folge stellt die Mannschaft von Tayfun Korkut nach dem Spiel auf den Flügel schnell und direkt eine Überzahlsituation in der Nähe der Seitenlinien her und attackiert den gegnerischen Ballführenden. Dieses ballorientierte Verschieben wird auch in tieferen Zonen in der eigenen Hälfte vollzogen, sodass die ballfernen 96-Flügelspieler regelmäßig bis in die Nähe der vertikalen Spielfeldmitte einrücken. Die ballnahen offensiven Flügelspieler unterstützen gegen den Ball nach vorne die Stürmer (und andersherum), wenn diese das Spiel auf ihre Seite gelenkt haben und nach hinten die Außenverteidiger, wenn diese sich dem gegnerischen Angriff gegenübersehen. Diese Art des Verteidigens ist eine deutlich intensivere, modernere und vor allem aktivere Spielweise als es sie noch in der Phase vor Korkuts Amtsübernahme zu sehen gab.

Beispielhafte Szene der Flügelverteidigung bei 96. Ballorientierung, intensive Mitarbeit der Offensivspieler, außer in Ballnähe keine Mannorientierung (außer vielleicht bei Kiyotake, das sah man in der Hinrunde häufiger): insgesamt gute Horizontalkompaktheit.

Wesentliches Merkmal der oft auch im Ergebnis widergespiegelten Defensivstärke von 96 ist zudem die sehr robuste und meist stabile Endverteidigung. Sie ist das Resultat einer sehr zweikampf- und kopfballstarken Defensivreihe, die mit ein paar Elementen der Aufgabenteilung und Eingespieltheit die individuellen Defizite verdecken kann (bspw. ein spielintelligenter und zurückhaltender agierender Schulz neben Marcelo, der dafür aber mit vielen diagonalen Sprints in Schulz‘ hinteren Wirkungsradius dessen mangelnde Antrittsschnelligkeit ausmerzt). In vielen Spielen, wie etwa im Heimspiel gegen Köln, zeichnete sie maßgeblich für die Gegentorlosigkeit verantwortlich.

Während 96 früher eher im tiefen Mittelfeld presste, durch die geringere Intensität im vorderen Band ein bisschen kompakter und etwas reaktiver verteidigte, nach Balleroberungen im Mittelfeld aber sehr direkt und schnell umschaltete, passt die derzeitige 96-Defensive mit hohem Pressing gut zur angestrebten (und auch schon in ansprechendem Ausmaß erreichten, s.u.) Weiterentwicklung hin zu einer im Ballbesitz und in der Ballzirkulation stabileren Mannschaft. Ein bereits vollzogener Fortschritt im Spiel gegen den Ball stellt das auch im Laufe der Hinrunde immer besser und effektiver gewordene Gegenpressing dar, das 96 nach Ballverlusten im Angriff einsetzt um aufkommende Konter des Gegners bereits im Ansatz zu unterbrechen und sowohl die hohe Positionierung der Mannschaft, als auch den Druck auf die gegnerische Verteidigung aufrecht zu halten. Wesentlich für das Gelingen der sofortigen Ball-Rückeroberungen ist die Struktur der Staffelungen im Ballbesitz vor dem Verlust des Spielgeräts. Ballverluste in Zonen, in denen der Gegner in großer Überzahl oder der 96-Akteur gar isoliert ist, können eher schlecht sofort ausgebügelt werden, da schlicht keine Spieler für schnelles Gegenpressing in der Nähe sind. Gerade bei einer aufgerückten Abwehrreihe können solche geschenkten Konter schwere Folgen haben. Daher müssen das Angriffsspiel und die Defensive bei 96 mittlerweile stärker zusammenwirken als dies noch vor einigen Monaten der Fall war.Die Defensivstabilität unterlag im Verlauf der Hinrunde einigen Schwankungen. Während 96 vor allem in der ersten Hälfte der Halbserie mit wenigen Gegentoren glänzte und oft ganz ohne Gegentreffer blieb, verschlechterte sich diese Bilanz gegen Ende der Hinrunde stark. Die Ursachen dafür sind wohl nicht eindeutig festzuhalten, zumal die größte Häufung an Gegentoren (13 Treffer ins falsche Tor zwischen dem 12. und 15. Spieltag) nahezu ausschließlich auf Partien gegen individuell klar überlegene Gegner fällt. Überhaupt entfallen 18 der 26 kassierten Tore auf Spiele gegen in der Tabelle vor Hannover platzierte Teams. Demgegenüber stehen sechs Spiele zu null gegen Mannschaften aus dem Tabellenbereich hinter 96 sowie der 2:0-Erfolg gegen die vor 96 stehenden Augsburger. Insofern ist die Behauptung, es mangele 96 an genereller Stabilität in der Abwehr nur auf Grundlage der Anzahl der Gegentore nicht ohne Weiteres haltbar – zumal die Defensivarbeit nicht nur grundsätzlich nicht, sondern wie gesehen mittlerweile auch nicht bei 96 eine rein auf die Abwehr und das defensive Mittelfeld beschränkte Aufgabe ist.

Die Offensive

Stattdessen spielen vermutlich mehrere kleinere Faktoren eine Rolle, wenn die etwas zu hohe Anzahl an Gegentoren erklärt werden soll. Quasi zeitgleich mit der Rückkehr Lars Stindls in die Startelf stieg auch die Anzahl an Gegentoren, was allerdings natürlich nichts mit Stindl selbst zu tun hat. Vielmehr war 96 generell seitdem offensiver ausgerichtet und durch das höhere Pressing naturgemäß etwas weniger kompakt (die Abwehr kann schließlich maximal bis zur Mittellinie vorrücken). Dem Gegner wurden so, sofern er sich aus dem Druck befreien konnte, etwas mehr Räume geboten, insbesondere die höhere Grundpositionierung der Mannschaft und die teilweise größeren Abstände zwischen der quantitativ stärker aufrückenden Offensive und der Abwehr wirkten sich auf die mannschaftliche Stabilität aus und 96 war anfälliger für Konter. Es wurde teilweise schwieriger, aus der kurzzeitig offeneren Staffelung den Zugriff auf den Gegner herzustellen, die dadurch schneller vorgetragenen Angriffe waren in der Folge schwieriger zu verteidigen. In Kombination mit der in dieser Phase der Saison höheren Qualität der gegnerischen Teams häuften sich die Gegentore entweder wegen der Qualität des Gegners, nach Kontern, begünstigt durch individuell unglückliche Abwehraktionen bei höherem Tempo – oder einer Kombination all dieser Faktoren (siehe beispielsweise quasi sämtliche Gegentore gegen Wolfsburg, Leverkusen, Hoffenheim und teilweise gegen Bremen). In der defensiv besten Phase der Saison bis zum elften Spieltag (mit Ausnahme der hohen Niederlagen gegen Bayern und Mönchengladbach im siebten und achten Spiel) wurde die Mannschaft von Trainer Korkut mangels offensiver Möglichkeiten in Folge von Verletzungssorgen hingegen deutlich zurückhaltender und umschaltfokussierter ausgerichtet, was vorübergehend auch erfolgreich war. In den Spielen zu Beginn der Saison war Korkut entgegen der im Juli geäußerten Hoffnung durch erst den Ausfall Lars Stindls und dann auch noch die Verletzung Edgar Pribs zu weiterer Improvisation gezwungen, da die in der Vorbereitung erprobte Spielweise ohne diese beiden Spieler zu dem Zeitpunkt nicht aufrecht zu halten war. Die Entwicklung offensiver Strukturen wurde erst einmal hinten angestellt, mit einem tieferen und kompakteren Pressing wurde für Stabilität gesorgt, die als Grundlage für den erfolgreichen Saisonstart diente (was – wie sollte es in Hannover anders sein – dennoch kritisiert wurde). Im Angriffsspiel musste der immer wieder neu zusammengewürfelten Mannschaft mit verschiedenen, teilweise an den Gegner angepassten Vorgaben und einer konterlastigeren Spielweise unter die Arme gegriffen werden. Mittel- und langfristig erfüllte diese Anlage jedoch nicht das Ziel, 96 solle im Angriff nicht mehr „von Momenten leben“, sodass mit der Rückkehr Lars Stindls auch das Ballbesitzspiel, die Kombinationsstärke und eine konstantere Durchschlagskraft in den Fokus des Offensivspiels rückte. Seitdem (wiederum: auch schon im Ansatz vorher, aber jetzt etwas anders strukturiert, effektiver, schöner, erfolgreicher) verfolgt Hannover 96 ein Ballbesitzspiel, das relativ positionsgetreu erfüllt wird, aber dessen Stabilität und Durchschlagskraft maßgeblich von der Meso- oder Mikroflexibilität der einzelnen Akteure lebt. Die Spieler dürfen nicht nur, sondern sollen vielmehr ihre Position vorübergehend verlassen, nicht jedoch ihren vorgesehenen Aktionsraum. 96 überlädt je nach Spielsituation verschiedene Zonen und nutzt die so geschaffenen kurzen Abstände zwischen den einzelnen Akteuren zu schnellen, nach Möglichkeit direkten Kombinationen mit angedeuteter Dreiecksbildung. Besonders durch kurze Ablagen höher positionierter oder noch besser sich fallen lassender Spieler auf nachrückende Akteure hält 96 den Kombinationsfluss aufrecht, schafft sich in der Folge bespielbare Räume in der Tiefe und kann so relativ schnörkellos zum Tor kommen. Im Angriffsdrittel setzt 96 aus dem offenen Spiel heraus immer weniger auf hohe Bälle, Hereingaben nach Durchbrüchen an die Grundlinie (die auf der rechten Seite wegen der Spielstruktur öfter vorkommen als links) werden erfreulich oft flach und in den Rückraum gespielt, anstatt sie auf gut Glück hoch in den Strafraum zu bringen. Während zu Saisonbeginn mit der personell arg gebeutelten und in der Folge auch teilweise spielerisch krankenden Offensivabteilung noch ein großer Teil der 96-Tore nach Standardsituationen oder Kontern fiel, waren in den letzten Begegnungen einige Tore und noch mehr große Chancen nach längeren Kombinationen und teilweise sogar nach planvollen, schnellen Angriffen aus dem Spielaufbau heraus zu sehen (die in der Hinsicht besten Tore der Hinrunde: das 2:2 gegen Hoffenheim und das 1:1 gegen Bremen). Grundsätzlich ist Hannover 96 in dieser Hinrunde dem Ziel Korkuts ein gutes Stück näher gekommen, eine Mannschaft zu stellen, die mehr Wert auf den Ballbesitz legt (der aber natürlich kein Selbstzweck sein soll, dazu übrigens hier ein fantastischer Artikel; vielmehr soll damit die Abkehr vom reinen Konterfußball symbolisiert werden) und die sich in der Ballzirkulation schrittweise stabilisiert.

Dieser Entwicklungsprozess nahm wie bereits erwähnt Mitte der Hinrunde an Fahrt auf, zeigte erste vielversprechende Ansätze und bietet dennoch genügend Raum für signifikante Fortschritte in der Rückrunde. An Hand der Ergebnisse und ihrem Zustandekommen lässt sich möglicherweise dennoch bereits eine leichte Bestätigung der in der Kaderanalyse getätigten Vermutung, 96 würde es mit der veränderten Spielanlage leichter haben, schwächer besetzte Mannschaften zu bezwingen erkennen. Die in der jüngeren Vergangenheit gesehenen Überraschungssiege gegen übermächtig scheinende Gegner werden mittelfristig eventuell seltener werden, wenn Hannover auch gegen gute Mannschaften seinen neuen Stil verfolgt, damit aber dem Gegner auch mehr Möglichkeiten anbietet und im Endeffekt wegen der niedrigeren Qualität knapp verlieren kann (siehe beispielsweise die Partien gegen Leverkusen, Hoffenheim und Wolfsburg). Aber 96 hat das Umschalten ja nicht verlernt und soll es auch nicht. Daher bestätigten vor allem die letzten Auftritte vor der Winterpause die Hoffnung aus dem Sommer, Tayfun Korkut könnte aus 96 eine in der Offensive variablere Mannschaft machen, die mehr aktive Eigeninitiative zeigt und eben wie von ihm selber gewünscht weniger von Momenten lebt (ein gutes Pressing, mit dem frühe gegnerische Ballverluste zwecks tornaher Umschaltgelegenheiten erzwungen werden sollen, ist natürlich auch eine Form von Eigeninitiative, daher der Pleonasmus durch den Zusatz „aktive“).

Ungefähre Raumaufteilung/Aktionsradien der in der Hinrunde am häufigsten gesehenen Mannschaft bzw. der nominellen Stammelf. In den jeweiligen Spielphasen befinden sich die Spieler natürlich dennoch auch außerhalb der angegebenen Zone.

 

Der Spielaufbau

Wenn man möglichst viel an der aktuellen Verfassung von 96 kritisieren möchte (und das möchten ja neuerdings immer mehr Menschen tun), sollte man sich den Spielaufbau vornehmen. Durch den mehr oder weniger stark ausgeprägt schon lange bestehenden Kreativitätsmangel im defensiven Mittelfeld und in der Innenverteidigung (wenn Felipe doch mal länger als zwei Wochen fit wäre …) muss 96 im Spielaufbau nach wie vor auf etwas weniger klassische auf der einen und relativ opportunistische Muster auf der anderen Seite zurückgreifen. Durch das planmäßige, aber bisher manchmal nur gelegentlich zu sehende ballfordernde Zurückfallen Stindls in den Sechserraum oder die engere Anbindung von Miiko Albornoz auf der linken Verteidigerseite versucht die Mannschaft, das Spiel flach und konstruktiv zu eröffnen. Den schnellen Übergang ins zweite Drittel, um von dort flach und produktiv zu kombinieren, vollziehen die Innenverteidiger oder Weltmeister Zieler in anderen Fällen auch mit langen Bällen, die durch die sehr gut geeigneten Zielspieler Joselu (sehr beweglich und zweikampfstark) und Jimmy Briand (robust und einsatzfreudig) verarbeitet und in die dafür geeigneten Zonen gebracht werden. Der Vorteil bei dieser Herangehensweise war ebenfalls in einigen Partien (Dortmund und Leverkusen vor allem) zu sehen: 96 kann auf hohes Pressing des Gegners reagieren, ohne auch nach der langen Befreiung aus dem Druck – oder sogar vor seiner richtigen Entfaltung – aus einer möglichen spielerischen Struktur zu fallen und bolzt oft nicht einfach den Ball planlos nach vorne. Was beiden vereinfacht dargestellten Mechanismen zu Gute kommt ist die ebenfalls in der Kaderanalyse geforderte und glücklicherweise auch umgesetzte viel planvollere und stärkere Einbindung Ron-Robert Zielers in den Spielaufbau. Die Innenverteidiger fächern in dieser Saison deutlich breiter auf als dies noch vor einigen Monaten der Fall war, der Weltmeister im Tor ist höher positioniert und fungiert zwischen den beiden Abwehrspielern als zusätzliche Anspielstation. Dabei treten seine Stärken als technisch starker, mitspielender Torwart, der auch über eine gewisse Spielintelligenz (vor allem was das Pressing des Gegners anbelangt) verfügt, nun offensichtlicher zutage. Mit ihm als potentiell erstem Aufbauspieler und Rückpassoption zur Entlastung verfügt 96 über eine bessere Raumaufteilung im Spielaufbau und kann den Ball daher auch im ersten Drittel ruhiger laufen lassen. Zieler kann also endlich auch die spielerischen Stärken zeigen, die man in der Vergangenheit bei ihm schon überdeutlich erkennen konnte, mangels individueller Pressingresistenz und Kreativität im gesamten Defensivbereich müssen er und die Aufbauspieler jedoch nach wie vor oft lange Bälle schlagen, die natürlich eine höher natürliche Streuung aufweisen und somit die Konstanz des (flachen) 96-Spielaufbaus insgesamt noch ein wenig zu wünschen übrig lässt.

Die Philosophie

Wenn in der Öffentlichkeit die Arbeit von Fußballtrainern bewertet oder beschrieben wird, greifen Berichterstatter gerne auf den Begriff der „Spielphilosophie“ zurück. Gefühlt versteht darunter allerdings jeder etwas anderes. Es wird nicht klar, ob dabei einzelne taktische Kernelemente, eine übergeordnete Strategie oder ein sonstiger fußballkultureller Hintergrund der Spielweise gemeint ist (oder aber alles spielt dabei irgendwie herein) und die Möglichkeit vorübergehender Abweichungen wird als nahezu ausgeschlossen angesehen. Wenn man darunter jedoch das Kondensat der einem Trainer besonders wichtigen und nicht zur Disposition stehenden Prinzipien fassen möchte, kann man damit etwas anfangen. Die von Korkut bei seiner Präsentation und auch immer wieder im Alltagsgeschäft geäußerten Schlagworte lassen sich – so zumindest die These – auch zunehmend im Auftreten der Mannschaft, die wiederum auf seine taktische Arbeit direkt zurückzuführen ist, wiederfinden (natürlich nicht nur auf die taktische Arbeit, aber z. B. im Bereich der Menschenführung sind eingehendere Schilderungen zu spekulativ). Die von Korkut immer wieder geforderte Solidarität lässt sich am prominentesten im Spiel gegen den Ball erkennen. Durch das kollektive Verschieben zum Ball und die Schaffung von Überzahlen durch nach hinten arbeitende Spieler können Fehler des Einzelnen schneller und leichter durch den Nebenmann ausgebügelt werden, sodass im Idealfall die Stabilität des Konstrukts den individuellen Fehler auffangen soll. Diese ausgeprägte Kollektivität passt auch zu den immer stärker auftretenden Ansätzen eines immer weniger individuell angelegten Gegenpressings, den kollektiven Bewegungen im Angriff durch Überladungen sowie die konsequente Arbeit der Offensivkräfte im Spiel gegen den Ball. Insgesamt soll die ganzheitlichere Spielanlage, die die Offensivspieler recht stark in das Spiel gegen den Ball einbindet und mit verschiedenen Mechanismen den Übergang von der Abwehr in den Angriff gewährleisten wohl zu einer möglichst hohen Kontrolle des Spiels (und des Gegners) führen. Tayfun Korkut betont öffentlich wiederholt, sich nicht zu sehr dem Gegner anpassen zu wollen, sondern das eigene Spiel durchbringen zu müssen. Das bedeutet jedoch nicht, dass keinerlei gegnerspezifische Veränderungen der taktischen Ausrichtung vorgenommen werden, wenngleich diese für meinen Geschmack noch umfänglicher und etwas regelmäßiger auftreten dürften. Doch der Hintergedanke dabei ist eventuell, nicht die Ordnung zu riskieren, was sich insbesondere in den defensiven Verschiebemechanismen sowie der positionstreuen, aber dennoch flexiblen offensiven Spielweise widerspiegelt. Es scheint für Tayfun Korkut von außerordentlicher Bedeutung zu sein, die eigene Organisation vor allem in den Defensivabläufen nicht im Gegenzug an eine Anpassung an den Gegner aufzugeben, jedoch in der Offensive über ein gewisses Maß an Flexibilität zu verfügen, das es ermöglicht, auf gegnerische Schwachstellen mit kleinen Veränderungen zu reagieren. Insgesamt soll der eigene Plan durchgezogen werden, um die Stabilität der Mannschaft aufrecht zu halten.

Natürlich ist es nach einem Jahr als Cheftrainer einer Bundesligamannschaft noch ein wenig zu früh, solche Aussagen definitiv festzuhalten, zumal Korkut gerade erst mit dem tatsächlichen Gestalten begonnen hat. Es ist aber interessant, dass sich die in der Öffentlichkeit getroffenen Aussagen in der taktischen Ausrichtung durchaus niederschlagen.

Fazit

Dieses Fazit ist glücklicherweise nur ein Zwischenfazit, da zum einen die Saison, zum anderen Korkuts Amtszeit in Hannover noch lange nicht vorbei ist. Es bleibt also spannend und sowohl die taktische Entwicklung der Mannschaft, als auch die Basis auf der über Korkuts Arbeit geschrieben werden kann, bieten noch viel Luft nach oben. Die in den einzelnen Abschnitten dargelegten Fortschritte und vor allem die Beschreibung des Status quo klingen allesamt sehr gut, aber es ist natürlich nicht zu bestreiten, dass es 96 in allen Bereichen noch an Konstanz fehlt. Darauf deuten der schwankende Verlauf der Saisonplatzierung, das Auf und Ab von defensiver Stabilität und offensiver Entwicklung sowie auch die qualitativen Eindrücke aus den Hinrundenpartien hin (vor allem gegen schwächere Gegner).

Quelle: hannover96.de

Die Ansätze im Ballbesitzspiel und Angriff waren insbesondere in den letzten Spielen vor der Winterpause vielversprechend. An einer konstanten Durchschlagskraft der Offensive bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der defensiven Konsequenz und Stabilität muss dennoch weiter gearbeitet werden. In der Winterpause steht vermutlich eine grundsätzliche Stabilisierung des spielerischen Niveaus bei gleichzeitiger Festigung der Balance zwischen Abwehr und Angriff auf dem Programm. 96 liegt was die erspielten Großchancen anbelangt auf den Abstiegsrängen, die Passquote ist mit durchschnittlich 63 % noch deutlich ausbaufähig und natürlich ist es nicht verboten, mehr Tore zu erzielen, als man hinnehmen muss. Doch wenn man den Verlauf der Hinrunde betrachtet, ist auch in vielen statistischen Bereichen ein positiver Trend zu erkennen (vor allem bei der Passquote). Erfreulich ist darüber hinaus neben der Zweikampfstärke die überdurchschnittlich hohe Ballbesitzzeit, die auch den qualitativen Eindruck einer immer stabileren Ballzirkulation untermauert. Angesichts der genannten Fortschritte und der Tabellenplatzierung lässt sich also zunächst einmal festhalten, dass das erste (halbe) Jahr des Umbruchs gut verlaufen ist. Eine weitere Entwicklung ist in vielen Bereichen noch nötig und möglich, aber nach den bisherigen Erfahrungen spricht wenig dagegen, dass es gelingen sollte nach der gemeinsamen Vorbereitungszeit auch signifikante Fortschritte auf dem Platz zu sehen. Dazu muss Hannover 96 allerdings von Verletzungssorgen verschont bleiben, da die individuelle Qualität nach wie vor eher dem Bundesligadurchschnitt entspricht. Durch eine im Endeffekt gute kollektive Entwicklung nach ein paar stagnativen Phasen ist die Mannschaft jedoch ein Stück oberhalb der Tabellenmitte eingelaufen, sodass man als 96-Fan insgesamt hoffnungsfroh ins Jahr 2015 gehen kann. Es wartet nach wie vor viel Arbeit auf Tayfun Korkut, aber in seinem ersten Jahr als Bundesligatrainer bei 96 hat er bereits deutlich gezeigt, dass er dieser Aufgabe absolut gewachsen ist.

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