Zur Taktik an sich

taktiktafel

In diesem Blog geht es zum wesentlichen Teil um Fußball-Taktik. Daher ein paar Worte zum Geleit.

Wenn man anfängt, sich ein bisschen mit Taktik auseinander zu setzen, wenn man versucht, das komplexe Spiel zu „lesen“, dann fällt einem schnell auf, wie albern über Fußball zuweilen geredet wird: eine Mannschaft, in Halbzeit 1 klar unterlegen, kommt aus der Kabine und spielt von da an mit höherem Pressing, verteidigt also risikoreicher, und die vorher vorne auf Konter lauernden Stürmer beteiligen sich stärker an der Defensive. Nun könnte man das wie folgt kommentieren:

a) „Der Trainer hat in der Halbzeitansprache wohl deutliche Worte gefunden!“
b) „Der Trainer hat die Taktik auf die Situation angepasst.“

Vermutlich stimmt beides, auf seine Art, aber am Stammtisch und, *hust* in der Fußballreportage wird immer noch allzu häufig Antwort a) gewählt. Das greift ein bisschen kurz.

Selbstverständlich ist die Taktik nur eines von vielen Elementen, die einen Einfluss auf den Ausgang eines Fußballspiels haben. Doch die Schwierigkeit besteht darin, dass viele dieser anderen Faktoren kaum objektiv zu bewerten sind, da wir sie einfach nicht sehen können. Wir können von außen nicht verlässlich bewerten, ob eine Mannschaft in den letzten zwanzig Minuten ein Spiel aus der Hand gegeben hat, weil die Spieler „ein charakterloser Haufen“ sind oder der Gegner „den Sieg mehr wollte“. Oder weil die Mannschaft „gegen den Trainer spielt“. Was wir hingegen sehen können, ist, dass der Gegner durch eine leichte Systemumstellung die bereits das ganze Spiel über bestehenden Lücken in der Defensivordnung der Mannschaft besser nutzen kann und sich von dort immer mehr Torchancen erarbeitet.

Genauso wenig hilfreich ist es darüber hinaus, nach dem Spiel zu argumentieren, eine Mannschaft sei konditionell in einem katastrophalen Zustand, weil sie „acht Kilometer weniger gelaufen ist als der Gegner!“ Glücklicherweise werden wir heutzutage durch verschiedene Anbieter mit unzähligen Live- und Gesamtstatistiken versorgt. Diese operationalisieren nahezu jede Facette des Spiels und hinterlassen einen großen Berg voller Zahlen. Natürlich laden diese Prozente und Kilometer dazu ein, Vergleiche zwischen den Mannschaften zu ziehen und diesem Vergleich in Kenntnis des Ergebnisses eine Bedeutung beizumessen.

Doch so einfach ist es nicht.

Wenn eine Mannschaft sich, platt ausgedrückt, am eigenen Strafraum verschanzt und dem Gegner die beiden anderen Spielfelddrittel mehr oder weniger komplett überlässt, ist das meistens Absicht. Das gegnerische Team wird nun in der eigenen und in Teilen der gegnerischen Hälfte relativ ungestört den Ball zirkulieren lassen können. Doch sobald es in die torgefährlichen Zonen kommt, versandet das Passspiel in der numerischen Unterlegenheit. Wenn der Gegner nicht kreativ genug ist, das Bollwerk zu durchbrechen, nützen ihm 75 Prozent Ballbesitz schlicht nichts. Somit sagt dieser Wert losgelöst von der qualitativen Betrachtung des Spielgeschehens nicht viel mehr aus, als dass eine Mannschaft oft und eine Mannschaft selten am Ball war.

 

Durch reine Statistik kann man keine Strategie beurteilen

 

Ebenso ist der Rückschluss, Team A sei konditionsschwächer als Team B, weil es im gesamten Spiel 10 km weniger gelaufen ist, in den allermeisten Fällen schlichtweg falsch. Zumindest ist er auf keinen Fall auf Grundlage dieser pauschalen Mannschaftsstatistik zu ziehen, ohne die Spielweisen der Kontrahenten zu berücksichtigen. Spielt eine Mannschaft zum Beispiel in einer relativ breit gestaffelten Raumdeckung, wird sie nicht besonders extreme kollektive Verschiebebewegungen vornehmen. Nur einzelne, ballnahe Spieler sind in größerer Bewegung, was sich in der Mannschaftsstatistik der gelaufenen Kilometer eher schwach niederschlägt. Entscheidet sich die gegnerische Mannschaft jedoch prinzipiell, ständig kompakt organisiert und ballorientiert zu agieren, verschiebt sie dementsprechend im Mannschaftsverbund die ganze Zeit in Richtung Ball. Diese von jedem Spieler ständig durchgeführten Laufwege addieren sich permanent zu einer großen Summe auf. Welche von beiden Strategien effektiver ist, kann durch die reine Statistik auf keinen Fall beurteilt werden. Vor allem aber ist eine größere Gesamtlaufleistung kein Qualitätsmerkmal, sondern schlicht und ergreifend der Hinweis auf eine andere (und nicht per se bessere) taktische Strategie.

Diese Diskussion könnte man über eigentlich jeden statistischen Kennwert weiterführen, die hier vertretene Ansicht bleibt die gleiche: Ohne den Kontext der taktischen Ausrichtung zu berücksichtigen ist eine Bewertung von Fußballstatistiken mindestens sinnlos, eher fahrlässig.

Vor allem aber ist es nichts sagend.

Taktik im Fußball ist ein Instrument, sein eigenes Ziel (das Spiel zu gewinnen) durch eigenes Handeln zu erreichen. Doch bei allen Versuchen, sich möglichst variabel oder stabil aufzustellen und die Schwächen des Gegners zu analysieren und zu nutzen, bleibt festzuhalten: Fußball ist ein von Zufällen geprägtes Spiel.

90 Minuten strategische Überlegenheit durch perfekte Vorbereitung der eigenen Mannschaft können durch den individuellen Fehler eines einzigen Spielers zunichte gemacht werden (natürlich muss die überlegene Mannschaft vorher noch einen Fehler gemacht haben: trotz Überlegenheit kein Tor schießen). Oder durch eine völlig verrückte, überraschende Einzelaktion des gegnerischen Ersatzstürmers. Oder durch den ersten und einzigen Fehler des Schiedsrichters im gesamten Spiel. Kurz: Die Zufriedenheit mit der eigenen Mannschaft nur von Ergebnissen abhängig zu machen, kann einerseits falsche Erwartungen an das nächste Spiel wecken und die Probleme verschleiern, andererseits unberechtigterweise frustrieren und positive Entwicklungen ignorieren.

Der Zufall kann durch eigenes Zutun leider nur begrenzt und nie ganz ausgeklammert werden. Das Ergebnis liegt nicht in der eigenen Hand, die Leistung jedoch schon.

 

Im TV fallen auch die sympathischten Experten nicht durch große Genauigkeit auf

 

Um zum Anfang zurück zu kommen:

Es gibt zahlreiche ehemalige (Weltklasse-)Spieler, die zu hervorragenden Trainern oder Sportdirektoren wurden. Andererseits gibt es aber auch zahlreiche ehemalige Profis, die heutzutage ihr Geld mit der öffentlichen „Analyse“ oder Meinungsäußerung verdienen und es nicht geschafft haben, ihre Perspektive auf das Spiel seit ihrem Karriereende weiterzuentwickeln. Das ist kein Vorwurf, schließlich können sie durch eigene Erfahrungen einen Aspekt des Spiels beleuchten, der nahezu allen von uns verschlossen ist und bleibt. Doch in anderen, vor allem taktischen Bereichen, fallen selbst die sympathischsten Experten meist nicht durch große Genauigkeit auf. Schließlich hat sich das Spiel alleine in den letzten zehn Jahren extrem entwickelt. Durch die enorme physische Steigerung stieg das Spieltempo, gleichzeitig wird die Organisation selbst mittelmäßiger Mannschaften immer besser und teilweise auch komplexer. Der Fußball von heute hat mit dem Sport, den die meisten ehemaligen Spieler selber erfolgreich bestritten haben, nur noch rudimentär zu tun.

Generell wäre es also wünschenswert, in der Spielberichterstattung mehr Wert auf taktische Aspekte zu legen, und dies „zur Not“ von wirklichen Experten tun zu lassen statt von ehemaligen Spielern (größte Ausnahme wohl Jürgen Klopp bei der WM 2006 im ZDF), deren Expertise eher in grundsätzlichen Fußballfragen liegt. Doch da sich auch das Interesse der erdrückenden Mehrheit der Fans eher nicht an Taktik orientiert, wird das wohl ein frommer Wunsch bleiben.

Aber als Gedankenanstoß: Würde man einen gelernten Automechaniker als Chefanalysten in einem Formel 1-Team engagieren?

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