Fußballstatistik für Einsteiger

Zuweilen werden wir gefragt, wie unsere Analysen zustande kommen und welche Statistik-Seiten wir zusätzlich zur Spielbeobachtung zu Rate ziehen. Im folgenden Beitrag gehen wir die Sache mal durch, natürlich am Beispiel der erfolglosen Hinrunde von Hannover 96. Achtung: Sieht kompliziert aus, ist aber eigentlich ganz einfach. (Ein paar Ratschläge an Thomas Schaaf fallen dabei auch ab.)

Einfache Statistiken

Nach jedem Spiel sammeln wir uns ein paar einfache Statistiken zusammen, die zunächst nichts Besonderes aussagen. Diese Werte, die wir dem Analyse-Bereich der jeweiligen Spielberichte auf der offiziellen Bundesliga-Seite entnehmen und mit einigen Werten von whoscored.com ergänzen, wurden beispielsweise letzte Saison zu der sehr statistiklastigen Saisonrückschau verarbeitet. Sie dienen heute wie damals hauptsächlich der Illustration und Beschreibung. Dass 96 in den bisherigen 17 Spielen im Schnitt 116 Kilometer pro Spiel gelaufen ist, ist zum Beispiel wenig interessant – dass dieser Wert im Ligavergleich zum oberen Drittel gehören dürfte, liegt größtenteils daran, dass 96 mit durchschnittlich 45 % Ballbesitz eine der inaktivsten Mannschaften der Liga stellte (und sensationellerweise ab dem 1:1 in Wolfsburg am fünften Spieltag auch kollektive Bewegungen gegen den Ball zeigte, die die Laufwerte etwas in die Höhe treiben). Wer wenig den Ball hat, muss mehr laufen. Insofern sind Laufstatistiken nicht für sich aussagekräftig, sondern gewissermaßen Hinweise für eine bestimmte strategische Ausrichtung. Und meist kein Qualitätsmerkmal in irgendeine Richtung. (Siehe dazu auch Beweisbilder zu Ballbesitz-Quoten und einer Einordnung der Passspielleistung im Ligavergleich; Quelle der Grafiken: whoscored)

Ein schnelles Beispiel: In Spiel X hatten wir 51 % Ballbesitz und enorme 465 Pässe, von denen auch noch 81% ankamen. Klingt nach was? War aber die 0:3-Pleite in Mainz. Das zeigt, dass so simple Kennwerte ohne den Kontext des Spiels (oder besser: auch der Spiele davor) sinnlos sind. Ballbesitz etwa kann auf viele Arten zustande kommen. Durch ein dominantes Spiel vielleicht, aber auch so: In diesem Fall führte Mainz früh in der ersten Halbzeit mit zwei Toren und ließ 96 danach einfach machen. Ohne Druck in der ersten Reihe konnte 96 ungestört und vor allem mit flachen Pässen aufbauen, sodass sich viele Pässe, viel Ballbesitz und eine hohe Passquote in den ersten beiden Dritteln anhäuften. Nach dem dritten Treffer in der ersten Minute der zweiten Halbzeit verstärkte sich dieser Effekt nochmal, am Ende stand die beste Passquote der 96-Hinrunde zu Buche. Der reine Blick auf die Zahlen legt jedenfalls nicht den Schluss nahe, dass 96 in der für das Ergebnis relevanten Spielphase einen einigermaßen katastrophalen Auftritt hingelegt hatte.

Um solche Spielstandseffekte zu überprüfen, kann man sich die  Statistiken im „Match Centre“ von whoscored in den jeweiligen Spielphasen anzeigen lassen, indem man in der Übersichtsgrafik die gewünschte Zeitspanne einstellt. Im Fall des Mainz-Spiels wird dann deutlich, dass 96 nach dem Tor zum 0:3 bis zum Schlusspfiff auf 56,6 % Ballbesitz kam, während es bis zu diesem Treffer nur 46 % waren – ob 96 ab diesem Zeitpunkt aber „das Spiel in die Hand genommen“ hat oder sich Mainz einfach nur mit der sicheren Führung begnügen wollte, müssen wir leider wieder selber überlegen.

In besagtem „Match-Centre“ von whoscored findet man auch Heatmaps und andere grafische Darstellungen, wie beispielsweise die Orte von gewonnen Kopfballduellen, für jeden Spieler in jedem Spiel. Etwas Vergleichbares bietet auch Squawka unter den „Detailed Match Statistics“ an. Bei Squawka kann man sich allerdings nicht nur ansehen, von wo 96 seine auf den ersten Blick erstaunlichen 16 Torschüsse gegen Augsburg abgegeben hat, sondern sogar, wo und wie sie endeten. Und schon war es das mit dem Erstaunen: Von diesen 16 Schüssen, dem Bestwert der 96-Hinrunde, wurden nur drei von innerhalb des Strafraums angegeben. Keiner dieser drei Versuche fand den Weg zum Tor, alle wurden vorher abgeblockt. Der überwiegende Rest war sinnloses Gebolze, Marwin Hitz musste nur zwei Bälle halten (für Beweisbild klicken). Schon blöd, auf diese ineffiziente Art und Weise seinen Rekord aufgestellt zu haben. Generell wurde zu Beginn der Hinrunde viel aus der Distanz aufs Tor geballert, was wir in den entsprechenden Analysen ausgiebig kritisierten. Das ist im Prinzip ziemlich dämlich, weil die Wahrscheinlichkeit eines Torerfolgs mit zunehmender Distanz nicht gerade steigt, auch wenn sich Sky-Reporter freuen, wenn sich „jemand ein Herz fasst und einfach mal draufhält“. Außerdem hatte 96 so selten in der Nähe des gegnerischen Tores den Ball, dass es vielleicht keine schlechte Idee gewesen wäre, diese ungewohnten Situationen ein bisschen auszunutzen anstatt einen Abschluss zu suchen, der nur mit Glück zu einem Tor führen kann. Nach einigen Wochen schien sich diese bahnbrechende Erkenntnis auch bei einigen Trainern und Spielern (außer Salif Sané) durchgesetzt zu haben, sodass in den letzten Spielen das Pendel immer öfter zugunsten besserer Abschlusspositionen ausschlug. Am Ende der Hinrunde hat 96 immerhin 85 mal im Sechzehner abgeschlossen, während „nur“ in 77 Fällen von außerhalb das Glück gesucht wurde.

Etwas weniger einfache Statistiken

Weil sich die Erkenntnis immer mehr durchsetzt, dass Fußball mehr ist als „wir müssen die Zweikämpfe richtig annehmen und eine gute Körpersprache zeigen“, wächst natürlich auch der Bedarf an wirklich aussagekräftigen Statistiken und Analysemodellen. Dabei werden besonders gefährliche Räume identifiziert und Aktionen in diesen Zonen besonders hervorgehoben, aufeinanderfolgende Aktionen verknüpft gemessen, oder es wird einfach nur etwas genauer hingesehen. Für daran interessierte Leser mit ausreichenden Englischkenntnissen stellt Statsbomb die vielleicht prominenteste Plattform für solche Artikel dar. Seit letztem Jahr werden ein paar dieser „advanced statistics“ regelmäßig aktualisiert und allgemein zugänglich gemacht, sodass wir uns auch über die sporadischen Einzelveröffentlichungen hinaus mit diesen von Datenanbieter Opta generierten Zahlen beschäftigen können.

Opta-ÜbersichtOff

Offensive Werte von 96 in besagter Veröffentlichung der Opta-Daten mit markierten Problemfällen. Die Einzelfälle werden im Folgenden erklärt und mit der Option des visuellen Beweises versehen.

Der Nachteil dieser Statistiken: Sie sind manchmal etwas komplizierter. Der Vorteil: Weil sie komplizierter sind, braucht man zum Verständnis ein bisschen weniger Kontext. Für das Erklären und Bewerten von Leistungen oder Problemen einer Mannschaft sind diese Zahlen etwas robuster. Auf der Suche nach einer griffigen Beurteilung der 96-Leistung in der Hinrunde lassen uns diese Statistiken eigentlich nur eine Wahl: „Vorne scheiße, hinten nicht viel besser.“

Gut, das dürfte den meisten Lesern und auch Nicht-Lesern nichts Neues sein. Aber der Vorteil der meisten fortgeschrittenen Statistiken ist eben, dass man auch ohne den visuellen Spieleindruck mit einigermaßen großer Verlässlichkeit zu diesem Schluss kommen kann. Sie zeigen beispielsweise, dass nur eine Mannschaft der Liga noch seltener zum Abschluss gekommen ist, als 96 (Beweisbild). Bei Abschlüssen aus der „Danger Zone“, also der gefährlichen Zone zentral vor dem Tor im Strafraum, liegt 96 sogar auf dem letzten Platz (Beweisbild). Selbst die Gründe für diese offensive Harmlosigkeit können uns die Opta-Daten zumindest oberflächlich andeuten: Das von Michael Frontzeck angekündigte Konterspiel kam nicht zum Vorschein. In der gesamten Hinrunde kam 96 nur 41 Mal über einen Konter zum Torabschluss – das ist der viertschlechteste Wert der Liga und für eine selbsternannte Kontermannschaft zu wenig (Beweisbild). Wenn Plan A nicht funktioniert und zudem Plan B der deutlich anspruchsvollere Weg ist, bleibt am Ende nicht viel übrig. Dass eine im Spielaufbau so schlecht strukturierte Mannschaft wie das Frontzeck-96 mit seinen elf Abschlüssen aus dem geordneten Ballbesitz in dieser Hinsicht nicht das Tabellenende schmückt, ist kein Kompliment für den spielerischen Zustand der Bundesliga (Beweisbild).

Einer der Gründe dafür liegt vermutlich wiederum in der Flügel- und Flankenlastigkeit des 96-Spiels. Fast jeder zweite 96-Abschluss erfolgte im Anschluss an eine Flanke (Beweisbild). Kein anderer Bundesligist, nicht einmal der VfL Wolfsburg, kommt an diese Quote heran. (Na gut, die 47 % von Wolfsburg sind nicht signifikant weniger, aber es klingt so schön drastisch). Das Problem daran: Die meisten Flanken sind scheiße und senken die Wahrscheinlichkeit für den Torerfolg*. Wenn 96 also ohnehin nur selten zum Abschluss kommt und in der Hälfte der Fälle dies auch noch unter vermutlich ungünstigen Bedingungen erfolgt, können am Ende einfach nicht viele Tore herausspringen. Praktischerweise bestätigen das auch unsere manuellen Auswertungen aller 96-Treffer (viel Arbeit war’s bisher nicht): Nur vier Tore wurden auf diese Weise vorbereitet, sodass angesichts der 122 aus dem Spiel geschlagenen Flanken eine wahrscheinlich sogar leicht überdurchschnittliche Flanken-Verwertung von 3,2 % zu Buche steht (note to self: nachgucken, ob ich die Vorarbeit für Andreasens Handtor in Köln als „Flanke“ gewertet habe). Um den Klassenerhalt zu schaffen, müsste 96 in der Rückrunde also nur etwa 750 Flanken schlagen! Oder mit dem Blödsinn aufhören und wieder mehr richtigen Fußball spielen.

Opta-ÜbersichtDef

Defensivstatistiken von Opta, gleicher Ablauf wie oben.

Nach dem „vorne scheiße“-Teil kommt aber auch der „hinten nicht viel besser“-Abschnitt. 96 stünde nicht so weit unten, wenn sie nicht nur nicht viele Tore schießen, sondern nicht auch wenige Gegentore nicht verhindern können würden. Klar. Im Detail: 96 ließ die zweitmeisten Torschüsse aller Mannschaften in der Liga zu (Beweisbild) und steht genauso schlecht da, wenn es um zugelassene Abschlüsse aus der gefährlichen Zone zentral vor dem Tor geht (Beweisbild). Dank des oft recht passiven Pressings entfällt ein zu großer Teil dieser Torschüsse auf geordnete Angriffe des Gegners. Nur drei Mannschaften haben noch mehr gut vorbereitete Abschlüsse zugelassen als 96 (Beweisbild). Das größte Problem aber liegt wie schon im „vorne scheiße“-Absatz bei den Kontern. Kein Bundesligist zeigte sich in den ersten 17 Spielen so konteranfällig wie 96. Die Frontzeck-Elf wurde 70 Mal mit folgendem Torschuss ausgekontert (Beweisbild). Warum das so ist, zeigt uns der Blick auf die Statistik aber wiederum nicht. Sehr schlechte Ballbesitzstrukturen und davon ausgehend kaum brauchbare Gegenpressingstaffelungen sind als erste Vermutung aber wohl nicht völlig unbrauchbar. Nach Ballverlusten fehlte 96 jedenfalls öfter der Zugriff als der Konkurrenz. Unseren Aufzeichnungen nach bekam Hannover übrigens elf Konter-Gegentore, aber unsere Definition von Umschaltangriff/Konter ist eventuell etwas anders als die der Daten-Experten.

Opta-ÜbersichtFancy

Fancy.

Die fatale Mischung aus „schlecht konternde Kontermannschaft sein“ und „Konter nicht verteidigen können“ führt dazu, dass 96 eigentlich die zweitschlechteste Offensive der Liga haben müsste. Das bestätigt auch der „Expected Goals“-Wert, das ist eine Art Hochrechnung, wie viele Tore eine Mannschaft wahrscheinlich schießen wird. Demnach steht 96 nur vor Ingolstadt am Tabellenende (Beweisbild). Jedem Schuss wird dabei eine eigene Trefferwahrscheinlichkeit zugewiesen, die sich aus dem jeweiligen Winkel zum Tor, der Entfernung, der Art der Vorbereitung und noch vielen weiteren Parametern ergibt, die aus der empirischen Erfahrung mit erfolgreichen Torschüssen abgeleitet wurden (zur ausführlichen Erklärung einer der möglichen Methoden auf Englisch: hier klicken). Vereinfacht ausgedrückt hat sich die Frontzeck-Elf in der Hinrunde Chancen erspielt, die im Normalfall für 16 Treffer gut gewesen wären – 96 war also entweder etwas effektiver als normal oder hatte einfach nur ein bisschen Glück. In einzelnen Spielen war es sehr viel Glück (siehe Bild unter dem Absatz), in anderen wiederum nur gewöhnliche, kurzfristige Über-Effektivität. Unter denselben Annahmen hätte 96 die zweithöchste Anzahl an Gegentoren hinnehmen müssen – aber das Pech war anderen Vereinen (*hust* Stuttgart *hust*) deutlich stärker gewogen (Beweisbild). Insgesamt ist 96 also aus xG-Sicht mit seiner Tordifferenz etwas zu gut weggekommen; statt der tatsächlich erreichten -11 wäre eine -13,4 angenommen worden (Beweisbild).


Die vielleicht interessanteste und aussagekräftigste Beobachtung macht allerdings die sogenannte „shots on target difference“, also das Ergebnis der Subtraktion aller zugelassenen von den abgegebenen Schüssen auf das Tor (eigene Schüsse auf das Tor minus gegnerische Schüsse auf das Tor = SoTD). Dieser Parameter weist bei 96 einen Wert von -51 aus: Insgesamt hat 96 also 51 Schüsse auf das Tor weniger abgegeben, als zugelassen wurden (Beweisbild). Im Englischen gibt es dafür den schönen Ausdruck „being outshot“. Im Fall von 96 muss man das erweitern: 96 wurde in der Hinrunde heavily outshot. Zumal auch die „total shot difference“, also die Differenz zwischen allen eigenen und fremden Torschüssen, egal, ob sie auf das Tor kamen oder nicht, mit -110 extrem negativ ausfällt. 96 hat leider nicht nur Abschlüsse aus schlechten Positionen zugelassen, sondern einfach alles. Das spricht nicht für eine besonders sattelfeste Endverteidigung, wie auch der recht hohe Anteil an zugelassenen „through balls“, also quasi Schnittstellenpässen, oder die 18 gestatteten Zuspiele innerhalb des Strafraums andeuten (Beweisbild). Das Endergebnis ist jedenfalls beeindruckend: Der SoTD-Wert von -51 ist tatsächlich der schlechteste Wert aller Mannschaften in den europäischen Top-Ligen. Kein anderer europäischer Erstligist strahlt im Verhältnis zu den zugelassenen Torschüssen so wenig Gefahr für das gegnerische Tor aus. Ein toller Rekord!

Wir haben’s nicht leicht

Das alles sollte Hannover 96 eventuell ändern, wenn man in der Liga bleiben möchte. Und es ist fast ein bisschen irritierend angesichts der dargestellten Probleme, dass in der Rückrunde mit Thomas Schaaf ausgerechnet der Trainer an der Seitenlinie stehen wird, dessen Markenzeichen eine sehr große Anzahl an Torschüssen bei gleichzeitig aber auch vielen gegnerischen Abschlüssen ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird 96 also in der Rückrunde nicht mehr so weit unten in der Rangliste der Torschüsse stehen, ob man sich aber auch in Sachen Defensivstabilität wird verbessern können, bleibt abzuwarten. Und das Problem, mal wieder „outshot“ geworden zu sein, wird sich dann wohl nicht in der Deutlichkeit wiederholen, aber vielleicht mit kleineren Abständen in größeren Dimensionen. So oder so: Wenn Schaaf sich treu bleibt, wird er am statistischen Antlitz von 96 einiges ändern.

Dass die Mannschaft unter Qualitäts-Gesichtspunkten einfach nicht gut genug, sogar nicht einmal erstligatauglich sei, wurde man ja bereits hinreichend zugelabert. Der Blick auf die gezeigten Tabellen hilft vielleicht bei der Einordnung, ohne dass wir uns wieder zu viel Arbeit in einem aussichtslosen Kampf machen müssten, um die Blödsinnigkeit dieses Urteils zu begründen. Natürlich hatte 96 in den letzten Jahren selten eine qualitativ schwächere Mannschaft. Aber sind die Spieler so schlecht, dass dem SV Darmstadt zwangsläufig eine höhere Chancenqualität zugetraut werden muss? Sind die Spieler so schlecht, dass Ingolstadt mit einem kaum verstärkten Aufsteiger-Kader ganze neun Gegentore weniger vorhergesagt werden müssen? Ist die Mannschaft so schlecht, dass man nur über Hit&Hope und besinnungsloses Rumgeflanke zum Torerfolg kommen zu können glaubt? Ist es nicht vielleicht ein bisschen beunruhigend, wenn eine auf Konterfußball ausgerichtete Mannschaft einfach nicht zum Kontern kommt? Ist 96 die qualitativ schlechteste Mannschaft in Europa?

Der Goalimpact-Wert, bei allen Flausen, die man ihm teilweise auch zu Recht attestieren kann, bestritt das schon vor der Saison. Stattdessen sagt der Goalimpact, was wir eigentlich auch die ganze Zeit sagen: Die Spieler sind nicht an sich so schlecht, wie sie wirkten. Sondern sie wirkten erst in dieser Hinrunde so schlecht, weil sie, in einem nicht sehr guten System spielend, schlechter oder vielmehr ineffektiver wurden. Nur die ganz krassen Überfußballer im 96-Trikot, also Ron-Robert Zieler, Manuel Schmiedebach und mit Abstrichen Ceyhun Gülselam, konnten ihren Goalimpact, also ihren positiven Einfluss auf die 96-Tordifferenz, halten oder sogar noch steigern (alle drei von uns in Einzelbeiträgen porträtiert – als ob da jemand Ahnung hätte!). Um trotz vieler Einsatzzeiten besser zu werden, muss man zudem so talentiert sein wie Kenan Karaman oder Miiko Albornoz, aber leider verliert man dabei viel von seinem Talent. Wer viel spielte, war nicht schlecht, sondern er wurde schlechter, vor allem wenn er vorher schon ziemlich gut war (Sorg, Marcelo):

GoalimpactEntwickl

Nicht mehr ganz aktuell, aber wahnsinnig viel kann sich seit diesem Zwischenstand von Mitte der Hinrunde nicht geändert haben. Eventuell eine leichte Angleichung in beide Richtungen (Schmiedebach mit etwas weniger großer Zunahme, die Stammspieler mit einer etwas weniger negativen Entwicklung). Auch interessant: Die befreinde Wirkung, 96 zu verlassen, am Beispiel von Lars Stindl… Quelle: Goalimpact

Aber die vielen individuellen Fehler, die uns angeblich immer das Genick gebrochen hätten, die Frontzeck immer anführen konnte! Laut Squawka, die für diese Art der dicken Schnitzer die Kategorie „defensive error“ erfunden haben, hat 96 im Ligavergleich fast die wenigsten groben Fehler begangen:

Squawka-Patzer

Bei einer schlechten Sache ist Platz 15 eine gute Sache. Quelle: Squawka

Zwar weiß man nicht genau, wie die Herren ihren „Fehler“ definieren, aber sie scheinen bei anderen Vereinen deutlich mehr gesehen zu haben – sehr gemein, dass diese Vereine in der Tabelle auch noch so deutlich vor 96 stehen! Sollte es am Ende vielleicht gar nicht so einfach sein, sich „einfach vier, fünf Verstärkungen holen und dann klappt das schon“? Der (fortgeschrittenen) Statistik ist die individuelle Qualität jedenfalls egal, sie interessiert sich nur dafür, was man mit den vorhandenen Spielern anstellt. Und da lautet das Fazit der 96-Hinrunde: Vorne scheiße, hinten nicht viel besser.

Empfehlungen

Dieser Artikel bietet natürlich nur einen kleinen Einblick in die Welt der interessanten Fußballstatistiken, weil wir das Thema auch eher als unterstützende Sichtweise betrachten. Im Bereich der Defensivstatistiken gibt es beispielsweise ein paar sehr interessante weitere Konzepte, die sich nicht nur auf das Zulassen von Torschüssen beschränken, sondern noch einen Schritt weitergehen und nach dem Zulassen bestimmter Pässe in bestimmten Zonen fragen (ein 96-Beispiel hier). Generell scheint sich in der englischsprachigen Statistik-Szene der Fokus ein wenig zu verlagern und sich das Interesse mehr auf die Pässe als auf die Schüsse zu konzentrieren. Artikel über „expected passes“ wurden auch schon geschrieben, die das Denkmodell hinter den „expected goals“ sozusagen auf das Passspiel übertragen. Um in dem Bereich auf dem Laufenden zu bleiben, empfiehlt es sich, die Arbeit bestimmter Autoren im Blick zu behalten. Am einfachsten geht das wohl über Twitter, wo man Dustin Ward nebst angeschlossenem Blog, Michael Caley, 11tegen11, und nochviele weitere mindestens genauso gute Blogger im Auge haben sollte. Und man sollte seinen Fernseher anschreien, wenn der Kommentator einem etwas über „wichtige Zweikämpfe“ erzählt und den Standardsatz aus dem Bewerbungsverfahren für Fernseh-Kommentatoren bringt: „Was nützt dir der ganze Ballbesitz, wenn am Ende nix bei rumkommt?“.

Und man sollte Geld darauf setzen, dass Hertha BSC in der Rückrunde in der Tabelle ein bisschen abschmiert. Vorausgesetzt, sie behalten ihre sehr geringe Offensivproduktivität bei, wird sich die Regression zur Mitte früher oder später in schlechten Ergebnissen niederschlagen.

6 Kommentare

  • AlbertC sagt:

    Danke Jaime, tolle Arbeit und Analyse, hast Du wiedermal sehr gut geschrieben – ich hege ja von Artikel zu Artikel mehr die Befürchtung, dass Du immer mehr abgenervt sein wirst. Der Prophet im eigenem Lande…
    „Regression zur Mitte“, diese Formulierung kommt mir aber sehr bekannt vor.

    Alle Deine Schlussfolgerungen, Vergleiche und Befürchtungen kann ich gut nachvollziehen und hege ich zum Teil seit längerem.
    Der Kader kann nicht so schlecht sein, dass er hinter Darmstadt liegen muss.
    Dieses ganze Gerede von, um und über Frontzeck und den Kader, lässt nichts Gutes ahnen, wenn es denn ernst gemeint war, was zu befürchten ist.

  • AlbertC sagt:

    Ahnung zu haben, das ist nicht so leicht. Ich spiele ganz leidlich Schach, im Schach gibt es eine Unmenge an Kompetenzabstufungen, jeder der schachspielt – Schachinteressierte, die nicht Schachspielen gibt es nicht – weiß, dass er nur begrenzt Ahnung von der Materie hat, gerade wenn er sich über Spiele im Spitzenschach äußert.

    Beim Fußball ist das anders. Da glauben die meisten, dass sie ausreichend Ahnung haben, dass sie dass, was sie im Stadien oder vorm TV-Gerät sehen, beurteilen können. Als ich anfing, mich mit dem modernen Fußball zu beschäftigen, habe ich schnell einsehen müssen, dass ich im Grunde keine Ahnung vom komplexen Geschehen auf dem Rasen habe. Die Zeit zu investieren, um mehr davon zu verstehen, ist es mir nicht wert gewesen, daher ist es bei meiner Ahnungslosigkeit geblieben.
    Wenn man einen Blick in die diversen Fußballforen wirft, wie verbissen dort geschrieben, kommentiert, Luft abgelassen wird und die Leute in ihrer relativen Ignoranz glauben, über die Fachkompetenz zu verfügen, Spiele, Spieler und Trainer bewerten zu können und in welcher Frequenz das geschieht, kann ich nur den Kopf schütteln. Instinktiv haben diese „Fußballfans“ eine tiefe Abneigung gegenüber den „Klugscheißern“ wie von der Spielverlagerung oder diesem Blog hier.
    Lesen lieber Madsack, Bild, Spox und Kicker, obwohl man dort im Grunde nichts erfährt, außer über die Ereignisse, die jeder unweigerlich mitbekommt wie Tore, Fouls, Lattentreffer und rote Karten, aber so gut wie nichts erfährt, über die Strategie und den komplexen taktischen Umsetzungen dieser.

    • Gunnar Lott sagt:

      Ach, nun. Ist halt ein anderer Blick auf die Sache.

      Man kann ja auch den vordergründigen Fluss des Spiels genießen und die Beschäftigung mit der Mechanik dahinter den Nerds überlassen — das ist völlig legitim.

      Genauso wie man Filme wegen der Gesichter der Schauspieler mögen kann, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob das eine clevere Kamerafahrt oder der bestmögliche Bildausschnitt ist.

      • AlbertC sagt:

        Da pflichte ich Dir völlig bei. Man kann die Schönheiten und die
        Spannung eines Spiels natürlich völlig bar eines Fachwissen über
        modernen Fußball genießen. Das bildet auch den Normalfall des
        Fußballkonsums ab. Fußball lebt ja zudem auch von der Parteinahme
        des Fans für seine Mannschaft, der er den Erfolg wünscht.

        Das habe ich aber auch nicht in Abrede gestellt, sondern das
        vermeintliche Expertentum gemeint. Also die Metaebene, nicht nur
        Freude am Konsum eines Spiels zu haben, sondern sich über das
        Geschehen im Expertenmodus zu äußern. Die meisten Fußballfans
        nehmen für sich in Anspruch, sich über das Gesehene in der Form zu
        äußern, dass sie das Spiel, einzelne Spieler und den Trainer
        beurteilen.

        Wobei ich von den Amateurexperten, den sogenannten 10 Millionen
        Bundestrainern, keine Fachanalyse erwarte, aber schon von den
        bezahlten Experten, die sich in den Medien zu einem Spiel äußern.
        Da finde ich es schon frustrierend, dass einem da so gut wie nichts
        über das Spiel vermittelt wird, sondern nur das kommentiert wird,
        was sich jedem auf den ersten Blick erschließt. Da erwarte ich
        schon, dass einem da Einsichten über das Spiel vermittelt werden.
        Ich finde es schon traurig, dass man über ein Ereignis, das von
        Millionen Menschen am TV verfolgt wird, eigentlich analytisch nichts
        erfährt, nichts über das Spiel und seine Komplexität, die sich
        nicht ohne weiteres auf den ersten Blick erschließt. Sich da
        erstaunlich viel im Verborgenem abspielt, obwohl es vor aller Augen
        abläuft.

        Der Unterschied zum Schachfan ist dabei folgender: Kein Schachfan
        dieser Welt würde sich den Fachanalysen eines Experten verschließen,
        über diese einen tieferen Einblick in das Geschehen zu erhaschen. Er
        würde einräumen, dass er, auch wenn er Vereins- oder Stadtmeister
        oder gar Bundesligaspieler ist, nur ein begrenztes Wissen und
        Einblick hat und dass es Leute gibt, die kompetenter als er sind,
        über komplexere Strategeme verfügen, die für andere unsichtbar der
        Partieanlage und der Entscheidung für einen einzelnem Zug zugrunde
        liegen.

        In Fußballforen indes werden Experten, die Zeit, Mühe und
        Intellekt darauf verwenden, das Spiel analytisch zu verstehen, in der
        Regel abgebügelt, als Klugscheißer verhöhnt. Es wird eigentlich
        kaum jemandem zugestanden, mehr Ahnung als man selbst zu haben und es werden dann auf eine oft verbissene Art Postings geschrieben, es dem anderen aber zu zeigen, dass er einem nichts zu sagen habe.

        Das geht zuweilen sogar soweit, dass der Kritik an der eigenen
        Meinung mit der Berufung auf die Meinungsfreiheit entgegnet wird.

        Wobei Meinungsfreiheit ja nun etwas völlig anderes meint, nämlich
        dass man nicht politisch verfolgt wird aufgrund seiner Meinungen –
        aber nicht, dass man das Recht hat, überall unkommentiert Blödsinn
        erzählen zu dürfen.

        Leute z.B. die sich hier in Hannover in einem Forum auf die
        Spielverlagerung berufen haben oder diese zitieren, werden verhöhnt
        und mit Häme übergossen. Spielverlagerung gilt dort als Schimpfwort
        im Sinne von Klugscheißer. Mir vollkommen unverständlich, niemand
        wird ja gezwungen auf z.B. Spielverlagerung zu klicken und dort zu
        lesen.

      • Jaime sagt:

        Ich würde das alles ungerne auf eine „hat Ahnung“-„hat keine Ahnung“-Skala runterbrechen. Ist einfach nur ne andere Art, sich mit Fußball zu beschäftigen. Natürlich ist es anstrengender und auch schwieriger, aber das ist doch überall so. Es ist aus meiner Sicht eher ein „macht sich mehr Mühe“-„macht sich möglichst wenig Mühe“. Man kann ja niemanden zwingen, sich Mühe zu machen. Und nur, weil sich jemand viel Mühe macht, heißt das ja nicht automatisch, dass er auch viel Ahnung hat.
        Siehe diese Seite hier. Ich hab ja auch kaum Ahnung, vor allem im Vergleich mit denen, die wirklich Ahnung haben. Aber „unter den Blinden…“ ;).
        Was diejenigen darüber denken, die sich nicht so viel Mühe machen wollen, muss denen mit der vielen Mühe einfach wurscht sein, weil sie es ja trotzdem für richtig halten. Jeden erreicht man eh nicht. Mir persönlich ist es jedenfalls völlig wurscht, ob andere das für Klugscheißer-Zeug halten. Nach oben zu treten ist ja nun kein ganz neues Phänomen in der Menschheitsgeschichte ;).

      • AlbertC sagt:

        „Mühe machen“ – ich bin ja, wie ich geschrieben habe, auch nicht bereit, mich der Mühe zu unterziehen – wobei ich mit Mühe, den Zeitaufwand meine, nicht die Bereitschaft (die Mühen) etwas Neues zu lernen. Wenn man sieht, wie viele Postings einige Foristen täglich produzieren, dann liegt es bei denen anscheinend weniger am Zeitaufwand für Fußball der gescheut wird, sondern halt an irgendetwas anderem.

        Fußball ist anscheinend etwas, was dazu angetan ist, bei nicht wenigen Menschen gehörig viel Zeit zu absorbieren.

        Und wie gesagt, von Leuten, die ihr Geld damit verdienen, sich über Fußball zu äußern, erwarte ich mehr Interesse daran dazuzulernen, wenn ich deren Äußerungen Aufmerksamkeit schenken soll.