96 – Lazio Rom 3:1

Im internationalen Vorbereitungsspiel gegen den italienischen Traditionsverein wurde gleichermaßen die Saison von Hannover 96 offiziell eröffnet sowie der Höhepunkt der Saisonvorbereitung bestritten. Eine Woche vor dem ersten Pflichtspiel der Saison in der ersten Runde des DFB-Pokals kann diese Begegnung als aussagekräftiger Test und Hinweis auf das taktische Gesicht der Mannschaft in den anstehenden Monaten gesehen werden. Daher liegt der Fokus der Beschreibung auch deutlich auf dem hannoverschen Spiel, die Herangehensweise Lazio Roms wird nur oberflächlich erwähnt.

Die erste Halbzeit – oder: Bittencourt on fire

96 begann wie zu erwarten in einer 4-2-3-1-Grundformation. Das personelle Aufgebot ist in dieser Form wohl auch zu Beginn der Pflichtspielsaison zu erwarten. Vor Ron-Robert Zieler bildeten links Christian Pander, innen Christian Schulz und Marcelo, sowie rechts Hiroki Sakai die Viererabwehrkette. Im zentraldefensiven Mittelfeld begannen Leon Andreasen und Manuel Schmiedebach. Hinter Stürmer Joselu formierten sich links Edgar Prib, rechts Leo Bittencourt und zentral Kapitän Lars Stindl zur offensiven Dreierreihe.

Grundformation in der ersten Halbzeit. Orientierungspfeile an Hand des Textes dazudenken.

Diese Aufteilung war im Spiel bei eigenem Ballbesitz über weite Teile auch relativ stark ausgeprägt. Dabei war auffällig, dass die beiden Außenverteidiger im Spielaufbau recht hoch (Sakai höher als Pander) und die Innenverteidiger breit aufgefächert standen, die beiden offensiven Flügelspieler positionierten sich relativ stark eingerückt. In nahezu jeder Situation, in der 96 das Spiel flach von hinten aufbaute, ließ sich Lars Stindl ballorientiert fallen, er kam dem ballführenden (Zieler oder meist einer der Innenverteidiger) Mitspieler also entgegen und holte sich den Ball ab. Meist zusätzlich, nur selten stattdessen, kippte einer der beiden Sechser etwas aus seiner Position heraus. Dabei wechselten sich Andreasen und Schmiedebach ab, es gab in dieser Hinsicht keine klare Rollenverteilung. Schmiedebach tendierte insgesamt bei eigenem Ballbesitz eher in den rechten offensiven Halbraum, Andreasen verhielt sich halblinks linearer. Das 96-Spiel der Anfangsphase war jedoch von relativ großen Staffelungsproblemen geprägt: Es bestand ein deutlich zu großer und unterbesetzter Raum zwischen Abwehrspielern und den Offensivakteuren. Schmiedebach und Andreasen konnten selbst wenn sie an den Ball gelangten in Unterzahl keine geeignete Anspielstation finden. Die ballführenden Spieler waren dazu gezwungen, diese unbespielbare Zone mit langen Bällen zu überbrücken und versuchten meistens, Prib und Bittencourt in Richtung Flügel zu schicken. Besonders ertragreich war diese Strategie jedoch verständlicherweise nicht. Als die oben beschriebenen Bewegungen von Stindl und den beiden Sechsern regelmäßiger und besser abgestimmt auftraten, konnte dieses Problem jedoch behoben werden.

Staffelungsprobleme in der Anfangsphase der ersten Halbzeit: Selbst wenn man Schmiedebach/Andreasen/Sakai anspielen würde, wären sie in Unterzahl. Daher kam oft der lange Ball.

Im Spiel gegen den Ball agierte 96 wie bereits in der letzten Hinrunde in einer 4-4-2-ähnlichen Struktur mit Stindl als zweitem Spieler in der ersten Reihe neben Joselu. Eine richtige 4-4-2-Staffelung war hingegen eher selten zu sehen, oftmals formierte sich 96 bei gegnerischem Ballbesitz ganz klassisch in einem 4-4-1-1. Die Rollenverteilung dabei war jedoch weitestgehend identisch zu den Abläufen der vergangenen Saison, da Stindl nach einem Pass in den Sechserraum schnell auf die gleiche Höhe von Joselu aufrückte. 96 presste somit zwar nicht immer in einer 4-4-2-Struktur, die Rollenverteilung der Spieler entsprach dieser Form dennoch. Dabei fiel zudem auf, dass die Abwehr deutlich höher stand als in den vergangenen Jahren bei 96. Da die vordere Reihe (Joselu und Stindl) nicht extrem früh störte, waren die Abstände zwischen den Mannschaftsteilen über weite Strecken sehr gering und 96 stand insgesamt sehr kompakt (Ausnahme natürlich bei gegnerischen Abstößen, wo Joselu, Stindl und ein Sechser Lazio hoch zustellten, aber das ist normal). Die Mannschaft soll offensichtlich mittlerweile ein eher hohes Mittelfeldpressing aufziehen. Zudem ist eine kleine Neuerung bzw. Intensivierung der letzte Rückrunde gesehen Ansätze festzuhalten: Gelegentlich stellten Joselu und Stindl ihre Gegenspieler zu, ließen jedoch eine Gasse für den Pass in den Sechserraum offen. Spielte Lazio in diesen Raum, stieß Schmiedebach aus der Formation heraus und attackierte den Passempfänger sehr direkt. In dem Moment ließ sich Stindl wieder etwas fallen und versperrte so den Weg zurück ins defensive Zentrum. Auf diese Weise konnte das ein oder andere Mal der Ball bereits in der gegnerischen Hälfte gewonnen werden (könnte man wohlwollend als Pressingfalle bezeichnen, würde ich aber nicht tun; dazu war es viel zu individuell durchgeführt und nicht wirklich kollektiv angelegt; könnte man aber mal bitte einstudieren). Gelangte der Ball auf den Flügel, versuchte 96 möglichst schnell in ballnahe Überzahl zu gelangen, attackierte den Ballführenden jedoch nicht besonders intensiv. Dennoch fiel auf, dass das kollektive Verschieben ein gutes Stück extremer durchgeführt wurde als in der jüngeren Vergangenheit und sämtliche mannschaftliche Bewegungen etwas homogener ausgeprägt sind. Das Defensivspiel ist also laufintensiver als zuvor.
Eine recht passende Beschreibung des hannoverschen Verhaltens bei gegnerischem Ballbesitz ist wohl, dass 96 eher indirekten, aber unangenehmen Druck auf den Gegner erzeugt: Von einem besonders intensiven, kollektiven Pressing kann zwar nicht gesprochen werden, durch stark verknappten Raum und individuelle, hartnäckige Störversuche bleiben dem Ballführenden des Gegners dennoch wenige vielversprechende Optionen.

96 bei gegnerischem Ballbesitz

In Hinblick auf die Angriffsstruktur bestätigten sich in der ersten Halbzeit des Spiels ein paar Ansätze aus den vorherigen Testspielen. War es 96 gelungen, den Ball wie oben beschrieben nach dem Zurückfallen von Stindl ins zweite Spielfelddrittel zu befördern, war die eingerückte Stellung der Flügelspieler von Vorteil: Durch die nun relativ engen Abstände zwischen Stindl, mindestens einem der Flügelspieler und mindestens einem Sechser konnten gute Dreiecke gebildet und schnell, oft direkt, durchkombiniert werden. Generell spielten sich diese kurzen, flachen Passstafetten in den Halbräumen ab und besaßen so oft die Option, den aufrückenden Außenverteidiger mit einzubeziehen. Insbesondere der Übergang vom zweiten ins dritte Spielfelddrittel gelang Hannover auf diese Weise stabil und erfolgreich. Joselu agierte relativ beweglich, sodass diese schnellen Angriffe aus eigenem Ballbesitz heraus eine gewisse Flügellastigkeit aufwiesen. Hatte sich 96 dann tatsächlich auf dem Flügel durchgespielt, folgte nahezu ausschließlich eine flache Hereingabe mit dem Zielbereich zwischen Tor und Abwehrkette, seltener dem Rückraum. Die Möglichkeit ständiger Positionswechsel in der offensiven Dreierreihe wurde hingegen in der ersten Halbzeit kaum genutzt (von kurzzeitigen, üblichen Positionsübernahmen abgesehen), lediglich Prib und Bittencourt tauschten nach etwa einer halben Stunde die Seiten.

96 im Spielaufbau nach behobenen Staffelungsproblemen. Nach 30 Minuten Seitentausch Bittencourt-Prib

War das 1:0 durch Marcelo noch nach einer Ecke entstanden (übrigens quasi der Diouf-Trick mit dem Verstecken hinter einem Mitspieler und dann Hinterlaufen), fiel das 2:0 nach einer frühen Balleroberung. Der Ball gelangte zu dem an nahezu jeder gefährlichen Aktion der ersten Halbzeit beteiligten Bittencourt (auch was individuelles Attackieren der Gegenspieler angeht wahnsinnig intensiv), der Richtung Torlinie lief und dann flach in den Rückraum zu Stindl ablegte.

Die zweite Halbzeit

Zunächst änderte sich in der zweiten Halbzeit personell und an den Formationen nichts. Somit blieben auch die grundsätzlichen Abläufe dieselben. 96 fuhr jedoch die Intensität der individuellen Störaktionen etwas zurück und trat daher gefühlt etwas zurückhaltender auf. Zudem schien sich der mit der etwas veränderten Spielanlage in der Defensive einhergehende höhere Laufaufwand bemerkbar zu machen, da das Abkippen der beiden Sechser etwas seltener zu beobachten war.

Auffällig war in der zweiten Halbzeit im Angriffsspiel jedoch die Nutzung des offensiven Umschaltmoments: Konnte sich 96 im Mittelfeld (oder seltener in der Abwehr) den Ball erkämpfen, nutzten sie die Gelegenheit zum Umschalten – nicht selbstverständlich bei spanisch veranlagten Trainern. Dabei operierte die Mannschaft mit zumeist kurzen Pässen und nahezu immer Ablagen auf nachrückende Spieler. Die Konter (nicht wirklich, aber diese Unterscheidung ist eher ein Detail) waren also von kurzen Momenten der Diagonalität oder Horizontalität geprägt. Nach dem Umschalten ging es also nicht wie in der Vergangenheit immer strikt vertikal nach vorne. Insbesondere Schmiedebach und Stindl spielte dabei eine größere Rolle, indem sie sich oft rechtzeitig nach dem Pass in die Spitze im Raum orientierten, die Ablage erhielten und von dort entweder offene Räume anspielten oder den Ball in Zonen brachten, in denen 96 in Überzahl war. Auch diese kurzen Ablagekonter wurden oft direkt ausgespielt und führten zu der ein oder anderen guten Torchance. Ob diese Vorgehensweise allerdings eine dauerhaft angelegte Strategie ist, wird man in den ersten Saisonspielen beobachten müssen.

Im Laufe der zweiten Halbzeit brachten zahlreiche Wechsel auf beiden Seiten den Spielfluss ins Stocken. Bei 96 agierte Schmiedebach ab der 60. Minute als Rechtsverteidiger, die Doppelsechs wurde von Gülselam und Andreasen gebildet. Kiyotake ersetzte Prib und interpretierte seine Rolle auf dem linken Flügel relativ eingerückt und zurückfallend, was gut zum ebenfalls eingewechselten Albornoz passte. Nach einigen Minuten wechselte Schmiedebach wieder auf seine angestammte Position neben Gülselam, sodass Maurice Hirsch die Position rechts in der Viererkette hinter dem ebenfalls neuen Schlaudraff übernahm. Nach der Einwechslung von Karaman und Sobiech trat 96 auch bei eigenem Ballbesitz in einem relativ klassisch interpretierten 4-4-2 auf, ansonsten änderte sich an den Abläufen wenig.

Kurzzeitige Aufstellung in der zweiten Halbzeit. Gut: Kiyotake-Albornoz. Dann zahlreiche Wechsel, unter anderem beständiges 4-4-2 mit Sobiech/Karaman in der Spitze, Schlaudraff rechts, Hirsch RV

 
Vor dem zum Anschlusstreffer führenden Elfmeter rückte Marcelo zu früh und zu aggressiv aus der Kette heraus, kam nicht mehr in den Zweikampf und wurde so einfach umspielt. Schulz konnte auf diese Bewegung nicht mehr rechtzeitig reagieren und musste in den riskanten Zweikampf gehen. Das 3:1 für Hannover fiel nach einem langen Ball von Marcelo. Der Innenverteidiger der Römer rutschte aus, Stindl hatte freie Bahn und behielt vor dem Torwart die Ruhe.

Fazit

Die neuen Mechanismen des 96-Spiels sowohl im Ballbesitz als auch in der Defensive funktionierten bereits über weite Strecken recht ansprechend. Die Mannschaft von Tayfun Korkut konnte sich einige wirklich gute Torchancen aktiv erspielen, nutzte diese jedoch nicht. Das hannoversche Spiel ist insgesamt auch laufintensiver als in der Vergangenheit, was eventuell bei der Gestaltung der Schlussphasen berücksichtigt werden sollte.

Doch trotz des erfreulichen Ergebnisses und der attraktiv vorgeführten Angriffe sollten einige Bereiche mit Verbesserungspotential angesprochen werden: Der Spielaufbau über die Innenverteidiger ist relativ einfach aufgebaut und kann bei einem darauf eingestellten Gegner zum Risiko werden. Konnte der Ball von dort nicht ins Zentrum gebracht werden, musste er auf die Außenverteidiger kommen. Dort war es für Lazio relativ einfach, den Ballführenden zu isolieren und den Aufbau zu unterbinden (das würde in der Bundesliga noch öfter passieren). Sollte außerdem Lars Stindl ausfallen, wäre wohl der einzige Spieler im Kader, der eine ähnliche Rolle ausfüllen kann Jan Schlaudraff. Die anfänglichen Staffelungsprobleme wurden behoben, sollten aber auch nicht allzu oft vorkommen. Außerdem ließ das mannschaftliche Verhalten nach Ballverlust noch zu wünschen übrig. Kollektives Gegenpressing konnte kaum ausgemacht werden, auch hier blieb es bei eher individuell durchgeführtem Nachsetzen. Gerade die Offensivstaffelungen mit engen Abständen zwischen den Spielern böte einige gute Möglichkeiten, noch stärker ausgeprägte, zusammenhängende Bewegungen in Richtung des gerade verlorenen Balls auszuüben. Das käme sowohl den Umschaltfähigkeiten der offensiven Mittelfeldspieler, als auch Joselus Tororientierung entgegen. 96 offenbarte in diesem Testspiel gegen einen guten (aber auch wirklich nicht überragenden Gegner) einiges an gut anzusehenden und gleichzeitig durchschlagskräftigen Ansätzen, kann sich in einigen Bereichen dennoch steigern.

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