Taktische Entwicklung unter Tayfun Korkut

Zur Rückrunde der Saison 2013/2014 übernahm der bis dahin weitgehend unbekannte und im Profi-Fußball als Trainer eher unerfahrene Tayfun Korkut den Chefposten bei 96.

Relativ schnell wurde deutlich, dass der hauptsächlich in Spanien als Trainer sozialisierte Korkut eine deutlich andere Idealvorstellung von Fußball hat, als sie 96 bis dahin pflegte. Viel konkreter als das wurde er jedoch auch nicht. In der Öffentlichkeit behalf er sich mit eher allgemeinen Aussagen zu seinen taktischen Vorstellungen. So sollten seine Mannschaften eher aktiv und als Gemeinschaft agieren („Solidarität“), insgesamt gut organisiert sein und ein ballbesitzorientiertes Spiel verfolgen. Doch mannschaftliche Geschlossenheit und eine gute Organisation sind Grundvoraussetzungen für den Erfolg, unabhängig von Spielsystemen und taktischen Herangehensweisen. Somit lässt sich nur vermuten, dass Korkuts Ideal (das er mit Hannover 96 wohl nicht wird erreichen können) ein dominanter, positionsflexibler, flüssiger und kombinativer Spielstil ist, der aller Wahrscheinlichkeit nach auch auf Kurzpassspiel und relativ homogenen kollektiven Bewegungen beruht. Sozusagen, wenig überraschend angesichts seiner Laufbahn, moderner spanischer Fußball. Womit auch bereits die Begründung dafür geliefert wäre, warum es damit bei Hannover 96 schwierig wird.

Abgesehen von dieser bedingt fundierten Spekulation über Korkuts taktische Vorlieben war klar, dass der neue Trainer in der eher kurzen Wintervorbereitung und ohne die Möglichkeit, den Kader im großen Maße umzubauen, niemals seine Vorstellungen komplett umsetzen können würde. Es war somit sehr spannend zu beobachten, welche Prioritäten der Cheftrainer in der Ausrichtung der Mannschaft unter seiner Führung legen würde – immer in Anbetracht seiner eigenen Vorlieben, der personellen Möglichkeiten, der sportlichen Situation sowie der Kürze der Vorbereitung.

Rückblickend kann man zusammenfassen: Tayfun Korkut folgte ab seinem ersten Tag bei 96 offensichtlich einem konkreten Plan, in dem er die Möglichkeiten des Kaders, die Erfordernisse der sportlichen Situation sowie eine mittelfristige Weiterentwicklung berücksichtigte:

Stabilisierung und Zentrumsverdichtung

An der Grundformation änderte sich zunächst wenig bis nichts. 96 spielte auch unter dem neuen Trainer in einem eindimensionalen 4-4-2 mit flacher Mittelfeldformation (wenngleich diese Zahlenkombinationen wie 4-4-2 oder 4-2-3-1 ungefähr so aussagekräftig sind wie Telefonnummern). Auffällig war jedoch unter anderem die sehr stark ausgeprägte Kompaktheit, die sich bei gegnerischem Ballbesitz erkennen ließ: Die vertikalen Abstände zwischen den einzelnen Mannschaftsteilen waren deutlich geringer als gegen Ende der Hinrunde. Die beiden Stürmer (Diouf und Rudnevs) verhielten sich eher passiv und konzentrierten sich darauf, den gegnerischen Sechserraum vom Spielaufbau zu trennen. Somit leiteten sie das Spiel tendenziell auf die Flügel, ohne besonders aktiv zu pressen. Das Pressing insgesamt war unverändert zur Hinrunde als nicht besonders hohes, sprich frühes, Mittelfeldpressing zu beschreiben. Diese eher zurückhaltenden Stürmer und eine nicht außergewöhnlich tief stehende Viererkette in der Abwehr trugen dazu bei, dass zwischen den Feldspielern oft ein weniger als 30 Meter großer Abstand entstand. Diese Kompaktheit ist weder besonders kreativ noch ausgesprochen innovativ, erfüllte jedoch absolut ihren Zweck: Die Mannschaft sollte defensiv stabilisiert werden.

Das auffälligste Element des Spiels bei gegnerischem Ballbesitz waren sehr weit eingerückte Außenverteidiger. Sinnbildlich für dieses Element war, dass zu Beginn der Rückrunde mit Christian Schulz ein Innenverteidiger die Position des Linksverteidigers bekleidete. Die offensiven Flügelräume des Gegners wurden – insbesondere gegen Mönchengladbach – bewusst von den zentrumsorientierten Außenverteidigern frei gelassen. Ziel dieses Einrückens war zum einen, dem Gegner die naheliegende und einfache Option anzubieten, zur Grundlinie durchzugehen und von dort eine Flanke in den Strafraum zu bringen. Diese Art von Flanken sind relativ leicht zu verteidigen und zudem relativ großen Schwankungen unterworfen, sodass sie nur selten so präzise wie nötig gespielt werden. Zudem beteiligten sich die Mittelfeldspieler aus dem Mittelfeld daran, die gegnerischen Außenspieler unter Druck zu setzen. Die Ausrichtung der Außenverteidiger variierte dabei gegnerabhängig minimal. Gegen Borussia Mönchengladbach waren die großen offenen Flügelräume sehr sinnvoll, weil die Fohlen weder klassische Flankengeber, noch kopfballstarke Stürmer besitzen. Sie fokussieren ihr Spiel selber sehr auf Kombinationen durchs Zentrum, kamen dort allerdings aus genannten Gründen nicht durch und mussten immer wieder die von einem Flügel über die Abwehr auf die andere Seite verlagern. In der Zeit hatte 96 kollektiv jedoch relativ sauber verschoben, sodass sich dieser Ablauf wiederholte. Gegen den VfL Wolfsburg beispielsweise wurden diese Räume zuvor etwas kleiner gehalten. Dies war nötig, da vor allem Ricardo Rodriguez oft bis zur Grundlinie durchstößt und von dort den Ball ins Zentrum bringt, wo einige mögliche Verwerter warten. So konnte Wolfsburg einige Male gefährlich werden. Die beiden zentraldefensiven Mittelfeldspieler rückten generell ebenfalls nicht viel auf, um das gegnerische Spiel zu stören und hielten geringe Abstände zu den Innenverteidigern. Insgesamt war somit also nicht nur eine erfreuliche vertikale, sondern auch eine ausgeprägte horizontale Kompaktheit ins hannoversche Spiel zurückgekehrt. Das Zentrum des Spielfelds sollte so eng und mit so vielen 96-Spielern wie möglich besetzt werden, um es dem Gegner zu erschweren, sich gute Torchancen zu erspielen. Vor allem sollte vermieden werden, dass der Gegner in die sehr gefährlichen Zwischenlinienräume gelangen konnte. Als erste Priorität für eine Mannschaft, die sich knapp oberhalb des Abstiegskampfs befand, ist dies eine vernünftige Wahl.

Wiederbelebung des schnellen Vertikalspiels

Bei eigenem Ballbesitz war sich Tayfun Korkut der Unmöglichkeit einer radikalen Änderung bewusst und wählte somit den Weg, die überaus erfolgreichen Angriffsmechanismen der jüngeren Vergangenheit kurzfristig zu reaktivieren. Nach Ballgewinn schaltete 96 also wie gewohnt schnell um und versuchte, mit nur wenigen vertikalen Pässen durch den Halbraum ins Angriffsdrittel zu gelangen. Oft stieß dabei einer der beiden Sechser (eher Andreasen) mit in die Spitze vor, zudem wurden viele dieser Konter mit einem letzten Pass von einem der Flügel zu beenden versucht. Diese Ausrichtung war angesichts des Defensivkonzepts sinnvoll, zudem passt(e) sie sehr gut zu den Stärken der Spieler. Einerseits ist durch die erfolgreichste Zeit der jüngeren Vereinsgeschichte unter Mirko Slomka der Mechanismus des schnellen, vertikalen Umschaltens mittlerweile in der 96-DNA verankert. Andererseits bildete das neue Sturmduo Diouf-Rudnevs ein enorm dynamisches und torgefährliches Gespann, das sich ideal für auch weiträumigere Konter eignete. Überhaupt bot diese Sturmpaarung einige sehr spannende und unerwartete Wechselwirkungen (Synergien). Die beiden Stürmer bildeten gewissermaßen ein ziemlich vertikal angelegtes Pendel. Nur, dass es ein Pendel im Vollsprint war. Sie schafften sich durch überraschend gut abgestimmtes Fallenlassen und (seltener) seitliches Ausweichen einige Male relativ große Freiräume, die der jeweils andere sehr dynamisch anlief. Von dort sprintete derjenige eventuell gleich durch um an den Ball zu gelangen. In der Zwischenzeit war der andere bereits wieder ins Sturmzentrum zurückgesprintet und war dort anspielbereit.

Eine weitere Maßnahme verdeutlichte die Zentrumsfokussierung seit Korkuts Amtsantritt, diesmal jedoch im Offensivspiel: Die offensiven Flügel wurden invers besetzt, d.h. Huszti als Linksfuß besetzte zumeist den rechten, Bittencourt als Rechtsfuß den linken offensiven Flügel. Insbesondere Huszti verleitete dies dazu, mit dem Ball am Fuß ins Zentrum zu ziehen und von dort das Spiel weiterzuführen. Die Außenverteidiger waren auch bei eigenem Ballbesitz jedoch sehr zurückhaltend eingestellt, sodass sie nur in sehr wenigen Situationen diese geöffneten Räume anvisierten und aufrückten (Schulz quasi nie, Sakai/Rajtoral nur sehr selten).

Konnte das Umschaltmoment von 96 nicht genutzt werden, versuchte sich die Mannschaft an einem ruhigen Spielaufbau über die Innenverteidiger. Von dort sollte der Ball möglichst zu einem der beiden leicht abkippenden Sechser gespielt werden. Durch die tiefe Positionierung der Außenverteidiger dienten diese als relativ frühe Anspielstation. Insgesamt waren die Bemühungen um einen geordneten Spielaufbau zu Beginn der Rückrunde jedoch eher verhalten und nur selten produktiv. Vor allem sollten riskante Anspiele und somit Ballverluste in gefährlichen Zonen vermieden werden.

Rückschläge und -schritte, Fehler

Nachdem Korkut es in der Wintervorbereitung geschafft hatte, die Stärken aus der Slomka-Zeit auf beeindruckende Weise wiederzubeleben und der Mannschaft eine hervorragende Kompaktheit verordnet hatte, die zu zwei 3:1-Siegen führten, stellten sich jedoch einige Rückschläge ein.

In den folgenden Spielen änderte sich an der grundsätzlichen Ausrichtung der Mannschaft nichts, die kollektiven Bewegungen verloren jedoch etwas an Intensität und Konstanz. In der Folge waren die Abstände zwischen den Mannschaftsteilen etwas zu groß, auch die Lücken zwischen den einzelnen Spielern gerieten gelegentlich zu offen. Hinzu kam, dass die Interpretation der Außenverteidigerposition einer graduellen Entwicklung unterworfen war. Sie rückten bei eigenem Ballbesitz etwas weiter auf und waren bei gegnerischem Ballbesitz nicht mehr so extrem zentrumsorientiert. Zwar waren dies nur kleinere Unterschiede zu den ersten Rückrundenspielen, jedoch summierten sich diese kleinen Nachlässigkeiten. In der Folge bot 96 dem Gegner in nahezu allen Bereichen des Spielfelds größere Räume und leitete ihren Spielaufbau nicht konsequent genug. Da das Funktionieren des relativ konter-klassischen 4-4-2 auch zu nicht unwesentlichem Teil von der Effizienz in der Chancenauswertung abhängt, war in dieser Phase der Rückrunde das Auslassen der wenigen Torchancen problematisch: In der Defensive wurde 96 offener und anfälliger, in der Offensive hektischer und weniger durchschlagskräftig. Das Ergebnis: schlechtere Ergebnisse.

Tayfun Korkut versuchte selbstverständlich, diese Entwicklung zu korrigieren. Hierbei behalf er sich jedoch lediglich personeller Umstellungen, teilweise auch Verletzungsproblemen geschuldet. Christian Schulz wurde etwas zur Beruhigung und Stabilisierung des Defensivverhaltens ins Abwehrzentrum zurückbeordert, sodass die deutlich dynamischeren Pocognoli oder Prib die mittlerweile nicht mehr so zurückhaltend angelegte Linksverteidigerposition bekleideten. Mit der Versetzung von Lars Stindl auf den rechten Flügel wurde das Konzept der inversen Flügelbesetzung aufgegeben, Leon Andreasen sollte durch seine Zweikampfstärke und Konterfähigkeiten das zentrale Mittelfeld sowohl defensiv verstärken, als auch offensiv eine neue Option darstellen. Als weiteres taktisches Merkmal wurden situativ eingesetzte Mannorientierungen im Mittelfeldzentrum eingeführt, die ebenfalls dem Ziel dienten, eine gewisse Stabilität in die Defensivordnung von 96 zu bringen. Insgesamt wurde in dieser Saisonphase zudem versucht – auch bedingt durch die gestiegene Anzahl der personellen Wechsel –, etwas mehr Flexibilität in die Bewegungen der Mannschaft bei eigenem Ballbesitz zu bringen. Huszti orientierte sich beispielsweise trotz des Wechsels zurück auf seine angestammte linke Seite oft in die Mitte, die Rollenverteilung der neuen Doppel-Sechs Andreasen/Schmiedebach änderte sich von Spiel zu Spiel ein wenig, Stindl war ebenfalls von der rechten Seite kommend nicht auf ein bestimmtes Bewegungsmuster festgelegt. Dies hatte zur Folge, dass das hannoversche Ballbesitzspiel etwas flüssiger und weniger statisch wurde, wobei der Spielaufbau an sich jedoch nach wie vor ziemlich unkreativ und instabil war.

Während dieser mittleren Phase der Rückrunde musste Korkut allerdings des Öfteren personell umstellen, selten konnte eine Mannschaft an zwei aufeinanderfolgenden Spieltagen aufgeboten werden. Vor allem im Sturm drückte durch den bitteren Ausfall von Mame Diouf der Schuh. So versuchte Korkut sich mit „falschen“ Stürmern zu behelfen. Gegen Hertha BSC Berlin, bei einem sehr merkwürdig zustande gekommenen 3:0-Auswärtssieg, spielte beispielswiese Huszti einen ausweichenden zweiten Stürmer um Rudnevs herum, sodass Bittencourt im linken Mittelfeld spielte. Eine Woche später, bei einer verdienten Heimpleite gegen Dortmund, spielte Huszti diese Rolle erneut. Nur diesmal mit eben Bittencourt als Sturmpartner. Diese Besetzung im Angriff könnte man der unsachlich und inkompetent geführten öffentlichen Diskussion zufolge als „falsche-Doppelneun“ bezeichnen. Diese Maßnahme war zum einen durch die Verletzung von Rudnevs eine Notmaßnahme, andererseits aber potentiell sehr interessant. Bittencourt und Huszti drifteten abwechselnd durch das gesamte Angriffsdrittel, wichen auf beide Flügel (mal auch beide) aus, ließen sich in alle möglichen Räume fallen und waren insgesamt ihrem Naturell gemäß sehr beweglich. Die Kehrseite dieser Medaille jedoch war, dass durch dieses enorm ausweichende Sturmduo der zentrale Offensivraum nur selten besetzt war. Es fehlte schlichtweg ein Verwerter der durch die zurückfallenden Stürmer initiierten Angriffe. Abstrakt gesprochen war der Fehler allerdings nicht die Aufstellung, sondern die Nicht-Anpassung des Spielsystems an das Personal. Die Angriffsstruktur wurde nämlich trotz der nicht vorhandenen Stürmer kein Stück angepasst. 96 spielte, als wären vorne noch Rudnevs, Diouf oder Sobiech als Anspielstationen vorhanden. Da sie es jedoch nicht waren, spielte Hannover wie in den vorangegangenen Spielen teilweise zu sehen in Ansätzen relativ ansehnlich, entwickelte aber größtenteils null Torgefahr. Schon kleinere Änderungen der Spielstruktur, eintrainiert unter der Woche (man wusste, dass am Spieltag kein Stürmer zur Verfügung stehen würde), hätten signifikante Verbesserungen bewirken können (beispielsweise durch eine einrückendere, diagonalere Anlage der Außenspieler oder eine höhere und vertikalere Sané-Rolle). So jedoch spielte 96 zum Beispiel viele Flanken. Selbst wenn sich Bittencourt oder Huszti dann in torgefährlichen Zonen aufhielten, konnten sie diese aber einfach nicht verwerten.

So schleppte sich 96 zu ständigen Umstellungen gezwungen, defensiv anfällig und offensiv eher harmlos durch einige Spiele. Korkut versuchte, teils ohne viele Optionen zu haben, einiges, um dem schleichenden Abwärtstrend entgegenzutreten. Doch dabei gelang ihm nicht alles. Exemplarisch dafür kann sowohl die Aufstellung von Salif Sané gegen Bremen auf der Sechs als auch seine viel zu spät erfolgte Auswechslung herangezogen werden. Gegen die bekanntermaßen eng ausgelegte Bremer Mittelfeldraute war Sané, ein weiträumiger box-to-box-artiger Mittelfeldspieler, eine absolute Fehlbesetzung. Spätestens, als sich zu diesen taktisch begründeten, absehbaren Problemen eine offensichtlich schwache Tagesform (viele, viele, viele Fehlpässe und unkluge Zweikampfführung) Sanés gesellte, hätte Korkut früher im Spiel den Mut zu einer größeren Umbaumaßnahme zeigen können (in meinen Augen sollen/müssen). Er tat es nicht, sodass die Gefahr auf das hannoversche Tor zusehends größer wurde und im Gegentreffer in der Nachspielzeit mündete (wenngleich Sané selbst damit nichts zu tun hatte: 96 hätte Möglichkeiten haben können, das Spiel vorher zu seinen Gunsten zu entscheiden). Das folgende Spiel bei Eintracht Braunschweig stellte sowohl den Tief-, als auch Wendepunkt in der sportlichen und teilweise auch taktischen Entwicklung seit Tayfun Korkuts Amtsübernahme dar: Taktisch gesehen machte 96 alles wie immer, nur wie auch schon in einigen Spielen zuvor das meiste nicht besonders konsequent und gut. Zudem trug die lächerliche emotionale Überhöhung des Derbys aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht dazu bei, dass die Mannschaft eine ordentliche Leistung abrufen konnte. Das Spiel ging 3:0 verloren, womit 96 spätestens zu diesem Zeitpunkt im Abstiegskampf angekommen war. Korkut und die Spieler wurden bepöbelt, unsachlich kritisiert (Anlass zur sachlichen Kritik war schon länger nicht unberechtigt, s.o., fand aber logischerweise kein Gehör mehr) und gingen in ein Kurztrainingslager. Dort passierte offensichtlich einiges.

Großer Druck, leichte Änderungen, große Folgen

Am meisten Beachtung fand dieses Kurztrainingslagers in der medialen Nachberichterstattung im Hinblick auf die psychologische Aufbauarbeit. Es wurde nahezu ausschließlich betont, dass es Korkut gelungen war, aus einer angeblich charakterlosen Ansammlung von Einzelspielern wieder ein funktionierendes Kollektiv zu formen. Zwar ist die große Wichtigkeit psychologischer Arbeit mit der Mannschaft keinesfalls zu bestreiten und soll nicht kleingeredet werden. Dennoch greift diese ausschließlich auf die mentale Komponente des Spiels fixierte Betrachtung deutlich zu kurz (wenngleich sie in nahezu allen Medien insbesondere im Abstiegskampf immer wieder überproportional betont wird). Vor allem aber ist der psychologische Zustand einer Mannschaft von außen kaum verlässlich zu beurteilen, was eine richtige Einschätzung unmöglich macht.

Natürlich wird an der „Teamchemie“ im Kurztrainingslager gearbeitet worden sein, jedoch trug auch die taktische Komponente wesentlich zu der beeindruckenden Serie sportlicher Erfolge bei. So gelang es Tayfun Korkut und seinem Team, die auch in der schwächeren Saisonphase teilweise gezeigten guten Ansätze im Ballbesitzspiel zu intensivieren. Nun wurde, wie in einem Trainingslager typisch, auf diesen Ansätzen aufbauend an der Feinabstimmung und Fortsetzung gearbeitet. Die Lauf- und Passwege konnten so harmonischer und flüssiger vorgetragen werden. Wesentliche Merkmale hierbei stellten in den restlichen Spielen bis zur Winterpause eine deutlich verbesserte vertikale Staffelung und vor allem die damit verbundenen Dreiecke dar. Die Spieler bildeten relativ optionsreiche Dreiecke auf dem Platz, mit deren Hilfe die Kombinationen sowohl flüssig vorgetragen werden konnten, als auch zu Raumgewinn führten (trotzdem muss man nicht übertreiben: dieses Schema ist sehr grundlegend und weder innovativ noch wurde es außergewöhnlich gut umgesetzt; es war lediglich eine offensichtliche Steigerung zu den vorherigen Spielen, die eine große Wirkung hatte). Diese etwas größere Flexibilität und Aktivität im eigenen Spiel wurde maßgeblich durch eine dezente, aber eben auch sehr folgenreiche Systemanpassung (Systemänderung wäre übertrieben) herbeigeführt oder zumindest unterstützt. Statt des bis dahin praktizierten 4-4-2, an dem zuvor in weiten Teilen bei eigenem Ballbesitz auch mit „ungelernten“ Stürmern festgehalten worden war, agierte 96 mit dem Ball nun in einer 4-2-3-1-Staffelung. Personell wurde sie gelöst, indem Lars Stindl als hängende, zurückfallende Spitze neben einem eher klassischen Stürmer (Ya Konan/Rudnevs) aufgeboten wurde. Durch Sperren und Verletzungen änderte sich zwar über die Restsaison hinweg gesehen die personelle Aufstellung immer wieder, an den Prinzipien wurde jedoch festgehalten. So spielte z. B. Schlaudraff gegen Stuttgart nicht in der Stindl-Rolle, sondern in einer etwas kreativ interpretierten Rolle im linken Mittelfeld, Huszti dafür rechts. Stindl bot sich so immer wieder als Anspielstationen in verschiedenen Bereichen des Spielfelds an und hatte meist mehrere Möglichkeiten, das Spiel weiterzutragen (Ablage, Spielverlagerung, Spiel auf den nahen Flügel…). Dennoch sorgte er auch immer wieder für Präsenz im Sturmzentrum und überraschte mit bisher selten gesehener Torgefahr.

Bei gegnerischem Ballbesitz orientierte sich Stindl neben seinen Sturmpartner und stellte somit wieder ein 4-4-2 her. Dieses war wie bereits nach Korkuts Amtsübernahme recht kompakt, eher zurückhaltend angelegt und bot wenig Raum für gegnerische Kombinationen. Dennoch wurden Stindls Pressingfähigkeiten auch gelegentlich genutzt, um kleinere Anpassungen an den Gegner vorzunehmen (gegen Hamburg beispielsweise aggressiver ausgerichtet, gegen Stuttgart eher die Verbindung zwischen den/die Innenverteidigern isolierend). Die Verschiebebewegungen der Abwehr- und Mittelfeldreihen waren dabei zwar schlicht, aber harmonisch. Wurde der Ball gewonnen, wurde nach wie vor ein möglichst schneller, vertikaler Angriff zu beginnen versucht. Doch auch aus dem eigenen Spielaufbau heraus wurden gelegentlich etwas vertikalere Aktionen einzustreuen versucht.

Natürlich sollten die ausnahmslos erfreulichen Ergebnisse der letzten Saisonspiele seit dem verlorenen Derby nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch in dieser Saisonphase spielerisch keine Offenbarung gelang (was allerdings auch in jeder Hinsicht zu viel verlangt gewesen wäre). Nach wie vor passierten 96 einige äußerst unnötige Ballverluste in der Vorwärtsbewegung, schlecht ausgespielte Überzahlsituationen oder Probleme mit schnellen, flügellastigen Kombinationen des Gegners. Auch das Ballbesitzspiel zeigte sich wie gesagt verbessert, aber keineswegs fehlerfrei und immer durchschlagskräftig. Somit blieb trotz der hohen Erfolgsquote noch einiges an Luft nach oben. Tatsächlich hatte sich die Mannschaft in so etwas ähnliches wie einen Lauf gespielt, der psychologische Folgen mit sich brachte (gestiegenes Selbstvertrauen, Mut zu riskanteren Aktionen etc.), die durch die reine Beobachtung schwer zu beschreiben sind.

Tayfun Korkut hat tatsächlich in seinem ersten halben Jahr als Cheftrainer einer Profimannschaft viele schwierige Situationen durchstehen müssen. Dieser, wie er es nennt, „Crashkurs“ bestand vor allem darin, auf Grund von Verletzungen und Sperren viel improvisieren und experimentieren zu müssen. Gleichzeitig konnte er so aber bereits sein großes Potential als Trainer beweisen. Vor allem könnte man die Rückrunde so interpretieren, dass Korkut ein sehr intelligenter und weitsichtiger Trainer ist: Er versuchte nicht, seine Vorstellung von Fußball von heute auf morgen mit einer Mannschaft umzusetzen, die diese Umgewöhnung nicht in kurzer Zeit (wenn überhaupt) leisten konnte. Viel mehr besann er sich darauf, die offensichtlichen Stärken des Kaders für kurzfristige Erfolge zu fördern. Mittelfristig begann er allerdings bereits, grundlegende Aspekte seiner „Spielphilosophie“ (obwohl dieser Begriff viel zu oft und vor allem oft falsch gebraucht wird) schrittweise in das bestehende System zu integrieren. So ist in mancher Hinsicht durchaus eine kontinuierliche Entwicklung der Mannschaft zu beobachten gewesen. Auf die nicht zu bestreitenden Rückschläge, und davon gab es nicht wenige, reagierte er zwar gelegentlich zu spät und teilweise auch nicht mutig genug, fand aber früher oder später zufriedenstellende Lösungen. Aus taktischer Sicht hat Korkut somit bereits viel erlebt: Er hat Verloren geglaubtes reaktiviert, behutsam Neues eingeführt, selber Fehler gemacht, aber auch Fehlentwicklungen korrigieren können. Für die neue Saison nützen diese Errungenschaften jedoch wenig. Vor allem sollte die Serie ungeschlagener Spiele vom Ende der letzten Saison keine Illusionen über die anstehenden Spiele erzeugen. In der Vorbereitung dieser Spielzeit ist weniger der verwaltende und reparierende, sondern in erster Linie der gestaltende Trainer Korkut gefragt. Gelingt es ihm, der Mannschaft ein flexibles, flüssiges und dennoch gleichzeitig stabiles und durchschlagskräftiges Ballbesitzspiel zu vermitteln, wäre dies eine kaum hoch genug einzuschätzende Trainerleistung. Doch für dieses Vorhaben gibt es, vor allem angesichts der etwas schwierigen Kadergestaltung, bei weitem keine Garantie. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Tayfun Korkut auf dem Weg, seine eigenen taktischen Ideen bei Hannover 96 umzusetzen, zwar einige Schritte vorankommt, aber auch noch länger als gewünscht mit Reparieren und Improvisieren beschäftigt ist.

[Der Schlusssatz des Fazits entstand einige Tage bevor an mehr oder weniger einem Tag mit Hiroshi Kiyotake und Ceyhun Gülselam zwei Verpflichtungen bekannt gegeben wurden. Somit ist die Kadergestaltung nicht mehr so „schwierig“ wie gedacht, aber meine grundsätzliche Vermutung ändert das nicht komplett. Aber ein bisschen…]

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